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Kugler, Franz
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 2) — Stuttgart, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.27230#0013
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B. DIE KUNST DES OOTHISCHEN 8TYLB8.

Allgemeiner Charakter,

Aus der Fülle der Erscheinungen, welche das Wesen der roma-
nischen Schlussperiode bezeichnen, löst sich als ein besonderer Zweig
die Kunst des gothischen Styles ab. Die Anfänge dieses Styles
stehen mit den letzten Aeusserungen des Romanismus noch auf
gleicher Stufe; aber sie führen zu einer Umgestaltung der gesammten
Kunst des Abendlandes. An die Stelle der volksthümlichen Naivetät,
des phantastischen Behagens, des Strebens nach klassischer Läute-
rung, womit bis dahin die traditionelle Kunstform behandelt war,
tritt nunmehr ein neues Gesetz. Ein gemeinsamer geistiger Drang
macht sich geltend, welcher die Kunstschöpfungen lebhafter durch-
dringt, sie reicher gliedert, fester zusammenbindet; ein schwärme-
risches, mystisches, ekstatisches Element, welches der Form und
Darstellung einen neuen Gehalt, ihrer Fassung und Behandlung,
ihrer Verbindung, ihrer Wirkung ein charakteristisch neues Gepräge
giebt; eine Entwickelung von nachhaltiger Folgerichtigkeit, eine
Totalität der Conceptionen, welche das Einzelne überall aus den
Bedingnissen des Ganzen hervorgehen lässt und in deren Bann erhält.

Es ist schon (I., S. 550 u. f.) bemerkt, dass in der Gothik das
Universelle des mittelalterlichen Geistes, im Gegensatz gegen die
volksthümlichen Besonderheiten, zur künstlerischen Gestalt gelangt.
Es sind die grossen geistigen Bewegungen der Zeit, die sich hierin
offenbaren, die grossen historischen Erscheinungen, mit denen der
Beginn und die Ausbildung der Gothik in naher Wechselwirkung
stehen. Die Macht der Hierarchie, die die abendländische Welt zur
geistigen Einheit verband, feierte damals ihre Triumphe; sie setzte
sich gleichzeitig mit den Massen der Bevölkerung in ein unmittel-
bares Einvernehmen. Die kirchliche Wissenschaft fand auf den Uni-
versitäten die lebhafteste Pflege; die Sendboten des obersten päpst-
lichen Willens, die neugestifteten geistlichen Bettelorden, fanden in
allen Schichten der Völker Zugang, während die Versuche einer
selbständigen Gestaltung des geistigen Lebens durch Ketzergerichte
blutig unterdrückt wurden. Das aufblühende städtische Bürgerthum
folgte bereitwillig den von der geistigen Macht gegebenen Impulsen,

Kugler, Handbuch der Kunstgeschichte. V. Auflage. II. . 1
 
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