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Kugler, Franz
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 2) — Stuttgart, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.27230#0021
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Erste Periode.

9

Die Werke aus der Spätzeit des gothischen Styles sind dem
ursprünglich Erstrebten oft schon in erheblichem Maasse entfremdet.
Zumeist nur das Dekorative, und dieses allerdings nicht selten in
üppigster Entfaltung, hält noch spielend an den kunstreichen Com-
binationen der früheren Zeit fest. Die architektonische Räumlich-
keit, im nüchternen Gefüge der überlieferten Formen, erscheint zu-
meist ernst in sich beschlossen, die bildende Kunst zumeist in ge-
müthvoller Sammlung, mit strebsamer Sorge den Erscheinungen des
Lebens zugewandt, mehrfach auch aufs Neue von dem alten phan-
tastischen Hauche erfüllt. Innerhalb der überlieferten Richtung der
Kunst regt sich das Bedürfniss nach einer grundsätzlichen Neuge-
staltung ; den Anstoss zu dieser giebt die erneute Wendung zu den
Mustern des klassischen Alterthums und ihrem künstlerischen Ge-
halt. Italien, namentlich die toskanische Kunst, beginnt hiemit be-
reits in der Frühzeit des 15. Jahrhunderts, die übrigen Lande folgen
etwa um ein Jahrhundert später. Es ist die Richtung der „Renais-
sance“, die in solcher Weise, die moderne Kunst begründend, an die
Stelle des gothischen Styles tritt. Im Einzelnen bilden sich mannig-
fache Uebergangserscheinungen zwischen beiden. Eine längere An-
dauer der Gothik, tiefer in die Epoche der modernen Kunst hinab,
findet nur in seltenen Ausnahmfällen statt.

Erste Periode.

Der Ursprung der Kunst des gothischen Styles, ihre erste feste
Ausprägung, ihre erste Entfaltung in zahlreichen, grossen und glanz-
vollen Monumenten, gehört dem nordöstlichen Frankreich an.
Es sind die Lande der königlichen Domainen, die des Kronbesitzes
des französischen Herrscherhauses, die sich als solche der vollsten
Begünstigung erfreuten und in denen sich die Lebenselemente ver-
einigten, zu deren gemeinsamem Ausdruck der gothische Styl sich
entwickeln sollte. Hier fand die geistliche Macht in der königlichen
ihren bereitwilligen Vertreter; hier (in der Universität von Paris)
ward der kirchlichen Wissenschaft die reichlichste Pflege zu Theil;
hier gedieh das städtische Bürgerthum, der Bundesgenoss der könig-
lichen Macht gegen die des Adels, zur üppigen Blüthe. Die Nach-
bardistricte blieben von der künstlerischen Bewegung nicht unbe-
rührt; die wachsende Vergrösserung des Krongebietes, auch ent-
legenere Tlieile des Landes umfassend, führte dieser Bewegung neue
Stätten zu.

Die erste, vorbereitende Entwickelungsstufe des Styles, wie sie
in jenen Districten zur Erscheinung kam, fällt in eine Epoche, welche
anderweit noch den Romanismus in seiner ganzen Strenge oder doch
nur erst den Beginn seiner Umwandlung in ein weicheres und Wechsel-
 
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