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Kugler, Franz
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 2) — Stuttgart, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.27230#0020
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8

B. Die Kunst des gothischen Styles.

deren ästhetischen Ausdrucke dienen sollten. Die bildnerische Ge-
stalt wagt es nicht, frei zu erscheinen; sie bedarf des Baldachins,
des Tabernakeleinschlusses zur Sicherung und Rechtfertigung ihrer
Existenz; zusammengesetzte Werke veranlassen eine überaus reiche
Durchbildung, eine bunt dekorative Aufgipfelung dieser architekto-
nischen Umgebung. Ebenso schmückt sich das Prachtgeräth mit
Formen, welche das System des architektonischen Aufbaues nach-
bilden, zumeist sehr weit über seinen eigentlichen formalen Zweck
hinaus, oft in zierlichstem Spiele, oft freilich auch, ein natürliches
Ergebniss handwerksmässigen Betriebes, in sehr gedankenloser Ver-
wendung dieser Formen. —

Die Kunst des gothischen Styles gedeiht, nach ihren ersten,
zögernden Anfängen, in rascher Folge zu jener Entwickelung, welche
ihre innerliche Consequenz, das durchgehend Charakteristische und
Beziehungsweise ihrer Erscheinungen feststellt, welche sie zum be-
wältigenden Ausdrucke der Zeitstimmung macht und die Ausbreitung
ihrer Herrschaft sichert. Die romanische Form, wie hartnäckig
diese in einzelnen Distrikten auch ihr Dasein zu behaupten sucht,
zu wie hoher Vollendung sie sich in einzelnen Fällen ausgebildet,
welche Zugeständnisse sie in einzelnen Werken schon dem gothischen
System gemacht hatte, muss im Laufe der Zeit überall den An-
sprüchen des letzteren weichen. In stets gesteigertem Maasse ver-
mehren sich die Kräfte zur stets kunstreicheren Durchbildung dieses
Systems. Aber das System hatte von vornherein den Keim der Auf-
lösung in sich. Schon in jener Verbindung des Widersprechenden,
worauf seine Existenz beruhte, in der Verbindung der höchsten
spiritualistischen Tendenz mit der Kälte des Handwerkes, lag dieser
Keim; künstliche Speculation und Schematismus waren die Folge
davon. Weiter eingreifende Beeinträchtigungen mussten sich ergeben,
als das System in Kreise übertragen ward, welche seinen (Konse-
quenzen, seinem ekstatischen Drange, seinen Wunderwirkungen nicht
überall zu folgen gewillt waren. Hier heben die Umwandlungen an.
welche sich durch nationeile Einflüsse ergaben. In verschiedener
Weise strebte man dahin, die Uebermacht seines Höhendranges zu
beruhigteren Wirkungen umzubilden; es werden im Folgenden Lei-
stungen zu verzeichnen sein, welche auch in diesem Betracht als
höchst anerkennungswürdige dastehen. Aber wie Bedeutendes in
solchen Leistungen erreicht sein mochte, ein Bruch der Consequenz,
somit des Kernes des Systems, war hiemit jedenfalls gegeben, ein
Auseinandergehen seiner Elemente vorbereitet. Man erstrebte eine
schlichtere Gesammtwirkung und überliess die treibende Kraft, welche
doch in der Gesammtcomposition gegeben war, einer willkürlichen
Bethätigung, einem launenhaft bunten Spiele. Man löste die Strenge
des ursprünglichen organischen Zusammenhanges, so dass auch das
bildnerische Vermögen sich in selbständigerer Kraft entwickeln konnte;
aber die Festigkeit des Systems ward hiedurch nur in erhöhtem
Maasse erschüttert.
 
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