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Kugler, Franz
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 2) — Stuttgart, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.27230#0273
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ALLGEMEINE BEMERKUNGEN.


Die moderne Kunst bildet die unmittelbare Fortsetzung der
Kunst des Mittelalters; sie beginnt mit dem Anfänge des 15. Jahr-
hunderts, so jedoch, dass in einzelnen Gegenden, in einzelnen Gat-
tungen der Kunst, von Seiten einzelner Individuen die Typen, welche
sich in der letzten Entwicklungszeit der mittelalterlichen Periode
ausgebildet hatten, noch geraume Zeit hindurch, zum Theil bis in
das 16. Jahrhundert, festgehalten werden. Aber die moderne Kunst
erscheint von vornherein wesentlich verschieden von ihrer Vor-
gängerin, und die Eigentümlichkeit ihrer Leistungen nöthigt uns
sie in bestimmter Sonderung von den Leistungen jener zu betrachten.
Sie tritt gleichzeitig mit dem Erwachen eines wissenschaftlichen
Sinnes und wissenschaftlichen Strebens, mit dem gesteigerten Be-
wusstsein der persönlichen Geltung hervor, wodurch von der ge-
nannten Epoche ab das gesammte Leben der christlich - abendlän-
dischen Völker einen so beachtenswerten Umschwung erhielt; sie
entwickelt sich aus denselben Bedingnissen und prägt diese in ihren
Werken aus. Das persönliche Bewusstsein führt darauf hin, das
Einzelne in seiner Besonderheit, als ein abgeschlossen Selbständiges,
anzuerkennen; die Wissenschaft lehrt -—- in den Erzeugnissen der
Natur und der Geschichte —- die Formen finden, welche zu dessen
Darstellung nötig sind. Man bemüht sich den Organismus des
Naturlebens zu ergründen, seine Erscheinungen wie im Spiegelbilde
wiederzugeben; man erkennt das Vorbild, welches für solch ein
Streben in den Werken der Antike gegeben, und wie in diesen das
Gesetz der natürlichen Erscheinung bereits in grossen, höchst gül-
tigen Zügen niedergelegt war.

Eine Sinnesrichtung solcher Art musste, im Allgemeinen wenig-
stens, als der völlige Gegensatz dessen erscheinen, was in der Kunst
des Mittelalters erstrebt und in der letzten Entwicklungsperiode
desselben, in der des gotischen Styles, auf so grossartig bedeut-
same Weise erreicht war. An die Stelle jener schwärmerischen
Sehnsucht, welche die körperliche Form so viel als möglich zu ver-
geistigen strebte, trat jetzt ein gewisser Piealismus, welcher das
 
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