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B. Die Kunst des gothischen Styles.
dem folgenden Hauptabschnitt angehören werden. In Italien be-
ginnt gleichzeitig auch für die Architektur selbst ein neues Welt-
alter, welches ebenfalls erst an jener Stelle behandelt werden wird.
Architektur.
Der Ausgang der vorigen Epoche leitet in seinen künstlerischen
Strebungen die Richtung der späteren Zeit allmählig ein. Jene
flüssigere Form, jene leichtere Gewandtheit, mit der man das Sy-
stem zu behandeln gelernt hatte, musste bald zur Willkür, zum
Uebermuth, und dieser zur Entartung führen. Doch darf man nicht
mit diesen Worten die Bedeutung der Schlussepoche gothischer
Architektur erschöpft zu haben wähnen. Das schon früher bemerk-
bar gewordene Streben nach neuen Combinationen und Verhält-
nissen dringt jetzt zu höchster Energie durch und bringt bisweilen
räumliche und dekorative Wirkungen von überraschender Wirkung
hervor. Das Innere der Kirchen entfaltet sich besonders in die
Breite, weniger in die Höhe, der Raum wird kühn, hallenartig an-
gelegt, und ebenso steigert sich die Geltung des Aeusseren durch
massenhafte Gesammtform und beträchtliche Thurmentwickelung.
Was aber am meisten den Charakter dieser Epoche bezeichnet, ist
die Einseitigkeit des künstlerischen Sinnes, die Willkür, welche
über dem Ganzen das Einzelne vergisst, oder die Einzelheiten doch
nicht mehr zu einer harmonischen Totalität zusammenzustimmen
weiss. Daher die nüchternen, nackten Pfeilerformen, die todten
Flächen, die starren Massen, und daneben wieder die übertriebene
Krausheit des Laubwerks, die üppigen Verschlingungen des Stab-
werks, die oft wirr gehäufte Flächendekoration, die spielende Man-
nigfaltigkeit der Gewölbanlage. Daher die wunderliche, mehr der
Bizarrerie als dem organischen Gesetz entsprungenen Combinationen
der Fensterfüllungen, die rundlich geschweiften Formen der Fisch-
blase u. s. w.; daher selbst an den Oeffnungen der Fenster und
Thüren die geschweiften, überschlanken oder gedrückten Spitzbögen,
die ,,Eselsrücken,“ Kiel- und Tudorbögen und Andres; daher auf
der einen Seite ornamentale Ueberladung, auf der andern Nüch-
ternheit und Monotonie. Und so musste endlich, nachdem die Con-
struction und die Dekoration ihre strenge Verbindung gelöst und
jede ihre eignen Wege eingeschlagen hatten, ein willkürliches Com-
biniren, ein Haschen nach neuen, pikanten Effekten, ein Uebertrei-
ben des einfach Malerischen, andrerseits eine handwerksmässige
Nüchternheit, eine frostige mechanische Handhabung der Technik
einreissen, welche die Auflösung der Gothilc herbeiführten. Der
Schluss der gothischen Epoche wird durch das Auftreten der Antike
in der Renaissance bedingt, fällt demnach in den verschiedenen
B. Die Kunst des gothischen Styles.
dem folgenden Hauptabschnitt angehören werden. In Italien be-
ginnt gleichzeitig auch für die Architektur selbst ein neues Welt-
alter, welches ebenfalls erst an jener Stelle behandelt werden wird.
Architektur.
Der Ausgang der vorigen Epoche leitet in seinen künstlerischen
Strebungen die Richtung der späteren Zeit allmählig ein. Jene
flüssigere Form, jene leichtere Gewandtheit, mit der man das Sy-
stem zu behandeln gelernt hatte, musste bald zur Willkür, zum
Uebermuth, und dieser zur Entartung führen. Doch darf man nicht
mit diesen Worten die Bedeutung der Schlussepoche gothischer
Architektur erschöpft zu haben wähnen. Das schon früher bemerk-
bar gewordene Streben nach neuen Combinationen und Verhält-
nissen dringt jetzt zu höchster Energie durch und bringt bisweilen
räumliche und dekorative Wirkungen von überraschender Wirkung
hervor. Das Innere der Kirchen entfaltet sich besonders in die
Breite, weniger in die Höhe, der Raum wird kühn, hallenartig an-
gelegt, und ebenso steigert sich die Geltung des Aeusseren durch
massenhafte Gesammtform und beträchtliche Thurmentwickelung.
Was aber am meisten den Charakter dieser Epoche bezeichnet, ist
die Einseitigkeit des künstlerischen Sinnes, die Willkür, welche
über dem Ganzen das Einzelne vergisst, oder die Einzelheiten doch
nicht mehr zu einer harmonischen Totalität zusammenzustimmen
weiss. Daher die nüchternen, nackten Pfeilerformen, die todten
Flächen, die starren Massen, und daneben wieder die übertriebene
Krausheit des Laubwerks, die üppigen Verschlingungen des Stab-
werks, die oft wirr gehäufte Flächendekoration, die spielende Man-
nigfaltigkeit der Gewölbanlage. Daher die wunderliche, mehr der
Bizarrerie als dem organischen Gesetz entsprungenen Combinationen
der Fensterfüllungen, die rundlich geschweiften Formen der Fisch-
blase u. s. w.; daher selbst an den Oeffnungen der Fenster und
Thüren die geschweiften, überschlanken oder gedrückten Spitzbögen,
die ,,Eselsrücken,“ Kiel- und Tudorbögen und Andres; daher auf
der einen Seite ornamentale Ueberladung, auf der andern Nüch-
ternheit und Monotonie. Und so musste endlich, nachdem die Con-
struction und die Dekoration ihre strenge Verbindung gelöst und
jede ihre eignen Wege eingeschlagen hatten, ein willkürliches Com-
biniren, ein Haschen nach neuen, pikanten Effekten, ein Uebertrei-
ben des einfach Malerischen, andrerseits eine handwerksmässige
Nüchternheit, eine frostige mechanische Handhabung der Technik
einreissen, welche die Auflösung der Gothilc herbeiführten. Der
Schluss der gothischen Epoche wird durch das Auftreten der Antike
in der Renaissance bedingt, fällt demnach in den verschiedenen