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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 64.1913-1914

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Klein, Tim: Vom Kunstgeschmack und seiner Förderung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8767#0240

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schwankend und launenhaft, weil alles, und wären
es die größten Gegensätze, mit gleichmäßiger Neu-
gier beschnüffelt und mit der nämlichen stumpf-
sinnigen Bewunderung beehrt wird. Grünewald
und van Gogh, Michelangelo und Klinger, Botti-
celli und Rembrandt — ja ist es denn menschen-
möglich, daß ein und dasselbe Auge und Hirn
solche Gegensätze schlingt, und daß der Kunstlieb-
haber alle mit gleichem innerlichen Anteil erlebt?
Das ist unmöglich. Und so geschieht's, daß das
Publikum an vorgeblicher Kennerschaft zunimmt,
in der Tat aber immer mehr an künstlerischem
Erleben verarmt, vom Hexensabbat der historischen
Stile erschöpft, starrt es ratlos in die Zeit. Das
wissen legt sich lähmend auf die Liebe und auf
die Freude an der einzelnen gegenwärtigen Er-
scheinung des Kunstwerks.

Dazu kommt das endlose Kunstgeschwätz, das
Kritiken- und Reklameunwesen. Die Geschmacks-
urteile, ob richtig oder falsch, werden vorgekäut.
Das Publikum liest in der Zeitung, was für einen
Geschmack es zu haben hat, und eben darum hat
es keinen. Der Superlativ des Lobes oder Tadels
geht bald ans Unerträgliche. Man könnte wähnen,
daß noch niemals auf allen Gebieten so viele
Genies aufgetreten wären als gerade in unserer
Zeit. Der Jargon gegenseitiger Versicherungs-
gesellschaften auf Unsterblichkeit wäre lächerlich,
wenn er nicht widerlich wäre. Auch hat die Kritik
vielleicht noch niemals einen so desultorischen,
schneidig schneidenden Lharakter gehabt. Und so
schüchtert sie das Publikum ein, anstatt ihm die
Augen in unparteilicher Geduld zu öffnen. Öffent-
liche Zänkereien über Echtheit oder Unechtheit,
Fabelpreise für alte Bilder, Sensationen des Kunst-
handels nehmen ein Interesse in Anspruch, das in
gar keinem Verhältnis zur Bedeutung dieser Dinge
steht. Man ergötzt sich an der Pikanterie des
Klatsches und an dem ruhelosen Spiel der Mode.
Mit Kunst und Geschmack hat dieses Getue ganz
und gar nichts zu tun.

Uber die Mode aller Art braucht man sich noch am
allerwenigsten zu beunruhigen. Modeverrücktheiten
hat es immer gegeben, und wir sind nun einmal
durch unüberbrückbare Klüfte von einer Zeit und
Rasse getrennt, die zwar den Typus eines Ge-
wandes jahrhundertelang trug, dafür aber eine
Kunst hatte, so reich und mannigfaltig, daß sie
bis ans Ende der Menschheit glänzen wird. —
Auch damit ist zu rechnen, daß es von Natur eine
Menge Menschen ohne jeden ästhetischen Geschmack
gibt, so wie es Leute ohne geschulten Verstand
und ohne richtig gehendes Gewissen geben soll.
Die von Haus aus Geschmacklosen sitzen seelen-
vergnügt inmitten eines Museums von Geschmack-
losigkeiten und freuen sich ihrer Schätze. Daraus
folgt aber nicht, daß alle anderen, die etwa in
einem geschmackvoll eingerichteten Hause leben, sich
über jene erheben dürfen. Ihren Geschmack hatte
der Architekt für sie.

Dennoch ist eine natürliche gute Geschmacksanlage
weiter verbreitet, als es vielfach den Anschein hat.

L. 3. Schmid

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