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Bund Deutscher Kunsterzieher [Editor]
Kunst und Jugend — 3.1909

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Heft IV (April 1909)
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Muthesius, Hermann: Wohnungskultur, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0070

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gekauft hatte, oder das, was man an sogenanntem English style in Deutschland
hervorgebracht hatte. Im Rokokostil hatte man noch bündige Vorbilder gehabt.
Es war ja zwar schwer gewesen, sich in eine leichte Grazie zu versetzen, aber
wozu wäre der gelenkige Musterzeichner nicht imstande! Im Englischen war man
schon freier, weil man von dem Vorbild nur eine sehr nebelhafte Vorstellung hatte.
,,Diinn und möglichst verrückt“ genügte hier als Devise. Im Jugendstil war man
ganz frei, hier sah man ja in dem, was die Grossen machten, lediglich die blanke
Willkür. Die „neuen Formen“ schossen nur so hervor. Das Ornament war
natürlich die Hauptsache, es ist für den Musterzeichner stets die Hauptsache, ja
unter seiner Regie hat sich der ganze kunstgewerbliche Gedanke der letzten drei
Jahrzehnte im Aeusserlich-Ornamentalen erschöpft. Es ist dahin gekommen, dass
der eigentliche Sinn des Kunstgewerbes, das Bilden, durch den falschen Sinn des
Dekorierens vollständig überwuchert ist. Dekorierte man nun früher im Ornament
der historischen Stile, so dekoriert man jetzt eben in diesem sogenannten neuen
Ornament, das ist der ganze Unterschied. Und dieses Ornament ist darnach.
Ueberall sieht man entweder gereihte Blümchen in verrenkten Stellungen die Flächen
überdecken, oder man ist die Windungen der van de Velde-Schnörkel zu betrachten
gezwungen, die — bei van de Velde mit Verve hingesetzt und eine Bewegung
ausdrückend — hier in der traurigsten Weise missverstanden und ganz sinn- und
gedankenlos hingequält sind.
Der industrielle Jugendstil ist die peinlichste Verhöhnung, die dem
guten Gedanken der neuen Bewegung dargebracht werden konnte. Er ist verhäng-
nisvoll nicht nur dadurch, dass er den Rückständigen und Missvergnügten Gelegen-
heit gibt, ihre Verurteilung fälschlich auf die ganze Bewegung auszudehnen, sondern
auch dadurch, dass er bei den vielen Lauen und Fernerstehenden den Eindruck
schafft, als ob nun das Endergebnis der neuen Bewegung gezogen wäre, ja sich
selbst als das Ergebnis aufspielt. So bringt er die Bewegung in der breitesten
Breite in Misskredit.
Wie konnte der Jugendstil entstehen? Wie war es möglich, dass eine so
hoffnungsreich angetretene Bewegung in dieses seichte Fahrwasser geraten konnte,
um auf der Sandbank einer Afterkunst zu scheitern? Einmal muss man sagen,
dass der Originalkunst, der Kunst der Grossen, selbst ein Titel der Schuld zuge-
schoben werden muss. Sie wurde mit einem Krankheitskeime geboren und dieser
rief dann innerhalb weniger Jahre die verheerende Seuche des Jugendstils hervor.
Dieser Krankheitskeim war der übertrieben betonte Form en Standpunkt.
Die kontinentale neue Kunst ging von neuen Formen aus. Man war der alten
Form müde, man hasste es, aus den Schubladen der alten Kunst weiter historische
Formen herauszuziehen, wie es die Generationen vorher getan hatten. Man wollte
neue Formen, solche, die mit den alten nichts mehr zu tun hätten. Jedenfalls
handelte es sich vorwiegend und in erster Linie um Formen. Man vergass über
den Formen anfangs selbst ein wenig das Bilden, erst später gelangte man auf
diesen springenden Punkt des ganzen Problems. Was Wunder aber, wenn gleich
das ganze Heer der kleinen Geister auf diesen Formenstandpunkt anbiss und ihn
— natürlich in der oberflächlichsten Weise — ausbeutete.
Dann aber, und das ist die wichtigere Seite der Sache, lagen die Bedingungen
für das Inskrautschiessen des Jugendstils doch auch entschieden in unserer Zeit
und der Gesinnung unseres deutschen Publikums begründet. Lud hier gilt es
etwas länger zu verweilen, denn hier treffen wir den eigentlichen Krebsschaden
unserer deutschen künstlerischen Zustände an.
-X-
Je länger man über diese Zustände nachdenkt, umsomehr gelangt man zu
der Ueberzeugung, dass sie von unseren allgemeinen Kulturzuständen
nicht losgelöst werden können, ja sie sind eigentlich nur ein Ausfluss dieser Kul-
turzustände nach einer bestimmten Richtung hin. Die Kunst eines Volkes ist eine
Aeusserung seines Charakters. Sie wechselt dabei mit den zeitlichen Stimmungen
unserer Volksseele und mit der Färbung, die der Zeitgeist dem Volkscharakter
 
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