Heft IX
III, Jahrgang
September 1909
Schriftleiter: Gustav Kolb, Oberreallehrer in Göppingen.
Inhalt:
Hans Erhardt f- - Das Zeichnen in der Volksschule und seine Verwertung im Unterricht. — Die
Illustration zur Fibel fiir die kathol. Volksschulen Württembergs. — Denkmalpflege auf dem Lande. —
Bildwerke in der Kleinbürgerwohnung. — Verein württb. Zeichenlehrer. — Besprechungen.
Hans Erhardt f.
Etwas verspätet kommt dieser Lebenslauf unseres verstorbenen Hans Erhardt. Das
traurige Geschick seiner Familie machte es dem Vorstand unmöglich, die nötigen Er-
kundigungen früher einzuziehen. Wenige Wochen nach dem Tode unseres 1. Vorsitzenden
folgte ihm seine Gattin — sie starb nach einer glücklich verlaufenen Operation an Herz-
schwäche. Als uns dieser selbstverfasste Lebenslauf von seiner ältesten Tochter übersandt
wurde, da fanden wir, dass nichts den treuen Charakter unseres unvergesslichen 1. Vor-
sitzenden besser schildern könne als diese eigene Niederschrift, die wir ohne Zutat folgen
lassen. Der Vorstand des Vereins badischer Zeichenlehrer.
Hans Erharclt,
verwandten und
Zeichenlehrer, geb.
17. Oktoberl865 zu
Legelshurst.
Meine Eltern
waren Bauersleute,
welche, wie es viel-
fach im Hanauer-
land vorkommt,
nicht nach Herzens-
neigung, sondern
nach dem Geldbeu-
tel geheiratet ha-
ben, und zudem
noch Verwandte
waren. Diese Um-
stände un d währen d
der Ehe entstan-
dene Verhältnisse
brachten es mit
sich, dass mein
Vater sich von der
Familie trennte und
ein freies Leben in
Frankreich dem
engherzigen Dorf-
leben vorzog. Die
Mutter entzweite
sich mit ihren An-
ging nach Amerika.
Mein Bruder wurde
von Verwandten er-
zogen , meine
Schwester kam auf
Anraten eines un-
serer Familie be-
freundeten Pfarr-
herrn in das Wai-
senhaus Georgs-
bilfe bei Wertheim.
Ich hatte etwa das
8. Lebensjahr er-
reicht, als ich im
Elternhaus mit
meinen Urgross-
eltern noch allein
zurückgeblieben
war. Ich war ihr
Liebling, aber sie
waren zu schwach,
mich so zu erziehen,
wie es einem Wild-
ling von Nöten ge-
wesen wäre; ich tat,
was ich wollte. In
der Dorfschule
nahm ich vorwie¬
gend den ersten Platz ein, war aber auch an Unarten der hervorragendste. So konnte
es nicht weitergehen, sollte aus mir etwas werden, mahnte der fürsorgliche Pfarrherr,
und ich wurde nach vielem Sträuben von meiner und der Urgrosseltern Seite zu meiner
Schwester nach Wertheim verbracht. Dort in der Anstalt schien es mir anfangs,
als habe sich alles gegen mich verschworen. Schon das harte Lager wollte mich
gar nicht zur Buhe kommen lassen , dann auch noch so früh au£stehen , Betten
glattstreichen, Hinknieen zum Beten, überall Beten, ein Stück trockenes Brot vorge-
schnitten , ein Mittagessen , das mir meine Urgrossmutter nie zubereiten durfte,
hungriger Magen und damit nachmittags einen steinigen Bergabhang umstecken:
das war doch zu viel verlangt. Endlich brach das Gewitter los: ich fluchte in
meinem Hanauer Dialekt alle Heiligen und Wetter vom Himmel herab, dass mich
meine Kameraden und nicht minder der Aufseher anstarrten wie einen Besessenen.
Mit freundlichen Worten suchte mich der Aufseher zu beschwichtigen , doch ver-
geblich, selbst seine Drohungen wurden mit ähnlichen zurückgewiesen. Nun brach
das Hagelwetter über mich herein. „Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er“,
war sein letztes Wort, welches der Aufseher nach Schluss dieses Vorgangs an mich
III, Jahrgang
September 1909
Schriftleiter: Gustav Kolb, Oberreallehrer in Göppingen.
Inhalt:
Hans Erhardt f- - Das Zeichnen in der Volksschule und seine Verwertung im Unterricht. — Die
Illustration zur Fibel fiir die kathol. Volksschulen Württembergs. — Denkmalpflege auf dem Lande. —
Bildwerke in der Kleinbürgerwohnung. — Verein württb. Zeichenlehrer. — Besprechungen.
Hans Erhardt f.
Etwas verspätet kommt dieser Lebenslauf unseres verstorbenen Hans Erhardt. Das
traurige Geschick seiner Familie machte es dem Vorstand unmöglich, die nötigen Er-
kundigungen früher einzuziehen. Wenige Wochen nach dem Tode unseres 1. Vorsitzenden
folgte ihm seine Gattin — sie starb nach einer glücklich verlaufenen Operation an Herz-
schwäche. Als uns dieser selbstverfasste Lebenslauf von seiner ältesten Tochter übersandt
wurde, da fanden wir, dass nichts den treuen Charakter unseres unvergesslichen 1. Vor-
sitzenden besser schildern könne als diese eigene Niederschrift, die wir ohne Zutat folgen
lassen. Der Vorstand des Vereins badischer Zeichenlehrer.
Hans Erharclt,
verwandten und
Zeichenlehrer, geb.
17. Oktoberl865 zu
Legelshurst.
Meine Eltern
waren Bauersleute,
welche, wie es viel-
fach im Hanauer-
land vorkommt,
nicht nach Herzens-
neigung, sondern
nach dem Geldbeu-
tel geheiratet ha-
ben, und zudem
noch Verwandte
waren. Diese Um-
stände un d währen d
der Ehe entstan-
dene Verhältnisse
brachten es mit
sich, dass mein
Vater sich von der
Familie trennte und
ein freies Leben in
Frankreich dem
engherzigen Dorf-
leben vorzog. Die
Mutter entzweite
sich mit ihren An-
ging nach Amerika.
Mein Bruder wurde
von Verwandten er-
zogen , meine
Schwester kam auf
Anraten eines un-
serer Familie be-
freundeten Pfarr-
herrn in das Wai-
senhaus Georgs-
bilfe bei Wertheim.
Ich hatte etwa das
8. Lebensjahr er-
reicht, als ich im
Elternhaus mit
meinen Urgross-
eltern noch allein
zurückgeblieben
war. Ich war ihr
Liebling, aber sie
waren zu schwach,
mich so zu erziehen,
wie es einem Wild-
ling von Nöten ge-
wesen wäre; ich tat,
was ich wollte. In
der Dorfschule
nahm ich vorwie¬
gend den ersten Platz ein, war aber auch an Unarten der hervorragendste. So konnte
es nicht weitergehen, sollte aus mir etwas werden, mahnte der fürsorgliche Pfarrherr,
und ich wurde nach vielem Sträuben von meiner und der Urgrosseltern Seite zu meiner
Schwester nach Wertheim verbracht. Dort in der Anstalt schien es mir anfangs,
als habe sich alles gegen mich verschworen. Schon das harte Lager wollte mich
gar nicht zur Buhe kommen lassen , dann auch noch so früh au£stehen , Betten
glattstreichen, Hinknieen zum Beten, überall Beten, ein Stück trockenes Brot vorge-
schnitten , ein Mittagessen , das mir meine Urgrossmutter nie zubereiten durfte,
hungriger Magen und damit nachmittags einen steinigen Bergabhang umstecken:
das war doch zu viel verlangt. Endlich brach das Gewitter los: ich fluchte in
meinem Hanauer Dialekt alle Heiligen und Wetter vom Himmel herab, dass mich
meine Kameraden und nicht minder der Aufseher anstarrten wie einen Besessenen.
Mit freundlichen Worten suchte mich der Aufseher zu beschwichtigen , doch ver-
geblich, selbst seine Drohungen wurden mit ähnlichen zurückgewiesen. Nun brach
das Hagelwetter über mich herein. „Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er“,
war sein letztes Wort, welches der Aufseher nach Schluss dieses Vorgangs an mich