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Nr. 8r.


K A n st - B l a t t.

D o n n e r st >1 g, d e u io. Oktober r 8 2 r.

Einige Zweifel und Vermuthungen über das Ideal-

Schöne.

(Beschluß.)

Ein Gedanke hat sich uns oft aufgedruugen. Wie
könnte daö Ideal-Schöne in den Formen einen andern
Ursprung .hqhsn, als das Ideal-Schöne in den Sitten,
nämlich einen andern, «ls die Natur? Und diese leztere, hak
sie uns nicht alles gesagt, hat sie uns nicht ihr genaues
Maaß in den bewundernswürdigen Proportionen des Men-
schen gegeben? Es gibt kein Ideal im Laster und in der
Tugend: warum sollte man in der-physischen Schönheit,
und in der Häßlichkeit der -Formen ein solches -vvraus-
isetzen?

Der Satan, den der Erzengel zu Boden schlägt, von
Äaphael, -hat nichts Verwunderliches für mich,, in Bezie-
hung aus die zwey Gattungen von Wesen, die er mir vor
Augen stellt. Ich bewundere da? Genie, mir welchem der
Künstler sich von einem Ende der Leiter aus andere versezt
bat, aber ich glaube nicht, daß er die Gränzcu des Mensch-
lich - Möglichen überschritten hat. Man wird nicht mehr
Ideales in der Verruchtheit großer Verbrecher, wie Des-
,zues,,als in der Großmuth edier Bürger, wie Epaminvn-
das und der Canzler de l'Hopital finden. Aus welchem
Grunde wollte man in den Formen, die'bestimmt sind, sie
darzristellen, das Ideale herbevrufeu? wo will man es neh-
men? Warum sollte der Ausdruck selbst über der wirk-
lichen Handlung stehen, die ihr kennet, die ihr z» beschrei-
ben vrrmöget, die durch orgauische Mittel bewirkt worden
ist. und die ihr euch nur einbilden könnt, weil sie möglich
ist? Der achtuugswerthe Lavater, nachdem er mehrere
schöne Christuslöpfe analvstrt, die man dem Pinsel eines
Raphael, eines Leonardo da Vinci, eines Rubens, eines
Poussin verdankt, drückt sein Bedauern darüber aus, daß
Jemex f><r Idee entspreche, die er sich von dem Stifter
.des Ehnsteuthums gemacht. Er vermißte darin sine ausl
chrncksvvlle Vereinigung von Redlichkeit, Güte, Kraft,
Scharfsinn, .Würde, Milde, Nachsicht im Handeln, An-
sehen rm Gebieten. Er fügte Mit einer naive» und edcln
Begeisterung, hinzu, daß ihm ein ,'elchts Bsld ewig kost-

bar würde gewesen sexn, daß er es ohne Aufhöreu betrach-
tet, daß cs seine Freude in der Freude, seine Zuflucht in
den Mühen des Lebens gewesen, und daß er es immer am
Herzen würde getragen haben.

Es liegt etwas so Gutes und Rührendes in diesem
Wunsche des berühmten UhxFognomikers; dicß genügt, um
das Lächeln zurückzuhäiken, das bereit ist auf die Lippen
des Lesers zu treten; denn der vortrefliche Lavater vergaß,
daß den iiachahmendcn Künsten höchstens vergönnt ist,
einen gegebenen Moment abzudildcn, und daß mithin der
Erfolg sich bey ihnen darauf beschränkt, den charrcterjsti-
.scheu Ausdruck der Physionomicn in diesem Momente auf-
zufqffea.

Jesus aber, wenn er die Kindlein z» sich kommen
laßt, konnte nicht der nämliche scpn, der er war, als er
die Käufer ans dem Tempel jagte; und seine himmlische
Gestalt muß noch etwas ganz anderes sagen, wenn er die
Plane eines Treulosen durchschauend im Gram seines Her-
zens die Worte aussprach: „Wahrlich, ich sage euch, einer
von euch wird mich verrathen!" EinAugenblick den Leonardo
da Vinci in seinem schönen Gemälde des heil. Abendmals
vollkommen widergegeben hat.

Gewiß ein solches Aggregat, wie es Lavater verlangt,
war für den Pinsel unmöglich, noch unmöglicher für den
Meifsel, der an materialen Mitteln zur Ausführung min-
ner reich ist. Wenn eine solche Gestalt je auf der Lein-
wand erschiene, so müßte sie unmittelbar vom Himmel
darauf njedersteigcn, und noch wäre es nicht die Gestalt
Christi, weil die menschliche Natur, zu der er sich ernie-
drigt hat, dir einzige, die wir an ihm zu erkennen ver-
mögen, da die andre nur den Augen dcS Geistes sichtbar
ist, — diese Gestalt nicht gestatten würde. Wir gehen
noch weiter: es ist gar wohl anzunchmen, daß ein Kopf
von einem so complizirten Charakter, indem -er unsre Be-
griffe überstiege, des ersten Verdienstes -entbehren würde,
nämlich des Verdienstes, vom Beschauer verstanden zu
werden.

Alle diese Flüge des Gedankens 'hinan zu einem uu-
bekanuten Schönen scheinen uns nur Irrthümcr der Ein-
bildungskraft zu ftpn, wemi diese sich nicht an den Mo-
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