Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstchronik und Kunstliteratur — 65.1931/​1932

DOI issue:
Heft 11/12 (Februar-März 1932)
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61877#0098
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
94

KUNSTCHRONIK UND KUNSTLITERATUR

Kirchen-, Kultur- und Liturgiegeschichte, der Legende und
Volkskunde, vor allem aber nach der Seite der Kunst und
künstlerischen Begriffsbildung der Ikonographie verfolgt.
P. Kleinschmidt geht der Entstellung der Annalegende in
den Apokryphen nach, zeigt die ersten, wenn auch noch
zaghaften Denkmäler liturgischer Verehrung in Jerusalem
(St. Anna) und Konstantinopel, in Rom seit dem 8. Jahr-
hundert; als früheste Darstellungen sicheren Charakters be-
gegnen die Reliefs auf den Tabernakelsäulen von S. Marco,
in Rom die Fresken in S. Maria Antiqua. Auch die Dicht-
kunst wendet sich früh der Heiligen zu (Hroswitha). Das
Anschwellen des Kultes (Altäre, Kirchen, Bruderschaften)
und der künstlerischen Verherrlichung setzt aber im Abend-
land erst in der zweiten Hälfte des Mittelalters ein und
nimmt gegen dessen Schluß fast übermäßige Formen an.
In dieser Spätzeit verdichte t sich der den Annenkul t tragende
Gedankenkomplex langsam und in der Kunst in seltsam
gewagten Kompositionen zu der Idee der Immaculata Con-
ceptio Mariens, die im späten 16. Jahrhundert selbständige
Formung für die ganze Folgezeit, hauptsächlich in Spanien,
gefunden hat. — Der Verfasser, dem die Forschung der ver-
schiedensten Gebiete für diese grundlegende und aufschluß-
reiche Arbeit dankbar sein muß, hat die Hauptwerke
künstlerischer Darstellung der Heiligen und ihrer Legenden-
folge durchgängig und umsichtig gewürdigt. Man kann
natürlich auf dem fast unübersehbaren Felde der byzan-
tinischen und abendländischen Kunst vom Boden lokaler
Forschung aus mancherlei Wünsche anmelden, wie beispiels-
halber den nach einer Berücksichtigung des in der Kunst-
geschichte häufig genannten Anncnaltares im Freiburger
Münster, wahrscheinlich vom Meister des Breisacher Hoch-
altarcs, oder der Ehrenstettener Anna-Selbdrittgruppe,
oder des Morinckschen Steinplastik-Altares von 1590 im
Konstanzer Münster (hier noch ein früheres Tafelbild der
Mutter Anna von 1524). Aber die allgemeinen Linien werden
durch derartige Ergänzungen lokalen Charakters nicht ver-
rückt. Noch mehr gilt das von einem anderen lokalen oder
provinzialen Desiderium, sämtliche Kirchen- und Kapel-
lendedikationcn (von Altären gar nicht zu reden) aller
abendländischen Diözesen wenigstens statistisch aufgezählt
zu sehen, wie es Trier in so vorbildlicher Weise für den
hl. Jodok besorgt hat. Es ist das ein frommer Wunsch,
dessen Ausführbarkeit nur durch unverdrossene Zusammen-
arbeit vieler möglich wäre. Auch ohne diese weiteren Ziele
ins einzelne hinein hat der Verfasser in entsagungsvollem
Sammeln und Nachspüren eine erstaunliche Fülle von
Material hier aufgespeichert, gut gesichtet und in den Gang
der Entwicklung eingeordnet, wofür ihm rückhaltslose An-
erkennung gebührt. J. Sauer
Johannes Reil, Christus am Kreuz in der Bildkunst
der Karolingerzeit. Studien über christl. Denkmäler,
herausgegeben von J. Ficker. 21. Heft. Leipzig 1930.
Der durch „Die frühchristlichen Darstellungen der Kreu-
zigung“ und „Die altchristlichen Bildzyklen des Lebens Jesu“
bekannte Verfasser beginnt, die Ergebnisse der erstgenann-
ten Arbeit zusammenfassend und erweiternd, mit der spät-
antiken Entwicklung, ohne die ja die karolingische Entwick-
lung nicht zu verstehen ist. Klar und übersichtlich wird ein
antiochenischer, jerusalemischer und byzantinischer Typ ge-
schieden. Es wäre hier wohl Anlaß, auf die neuerdings wieder
von Weigand (Kritische Berichte 1930/31, Heft 2) aufgeworfene
Frage nach der Geltung der einzelnen Kunstzentren in früh-
christlicher Zeit einzugehen. Reils Aufstellung und Lokali-
sierung eines antiochenischen Typs scheint überzeugend, wäh-
rend die Lokalisierung eines aus hellenistischen Rudimenten
erschlossenen Typs in Alexandria doch problematisch bleibt.
Die karolingische Zeit bietet das interessante, wenngleich
verwirrende Bild der Übernahme und Verarbeitung spätantiker
Formen. Ein spätantiker Umkreis wird von einem frühmittel-
alterlichen geschieden. Der frühbyzantinische Typ spielt im
spätantiken Umkreis eine große Rolle, besonders in den Werken
der Reimser Goldschmicdeschule, deren Hauptwerke dasAnte-

pendium von S. Ambrogio in Mailand und der Vorderdeckel
des Asburnham-Evangeliars eine ausführliche Würdigung er-
fahren, wobei in bemerkenswerter Weise Friends Deutung
dieses berühmten Deckels (Art Studios 1923) berichtigt wird.
Während Friend die Idee des Deckels aus den Schriften des
Dionysius Areopagita ahleitet und daraus die Entstehung
des Werkes in St. Denis erweisen will, stellt Reil in geist-
voller Deutung neben dem Einfluß des Areopagiten den der
mystischen Abendmahlslehre des Paschasius Radbertus fest
und stärkt dadurch wieder die alte Hypothese einer Ent-
stehung in Reims.
Im frühmittelalterlichen Umkreis werden die spätantiken
Typen stärker abgewandelt. Ausgangspunkt ist hauptsächlich
der schwebende jugendlich-bartlose Christustyp hellenistischer
Prägung. Dieser Typ beherrscht in den Fresken und Minia-
turen der Benediktinerwerkstätten südlich und nördlich der
Alpen; er herrscht vor allem in der die Hofkunst Karls des
Kahlen repräsentierenden Liuthardrichtung und zeigt, am
umfassendsten in der szenischen Erweiterung der Kreuzigung
auf dem Münchener Buchdeckel (cim. 57), den Einfluß einer
spezifischen abendländischen kirchlichen Frömmigkeit und
Gedankenwelt. Die Kleinkunst der Metzer Schule bildet den
Abschluß in der Entwicklung des karolingischen Kreuzigungs-
bildes durch Einführung früh- und mittelbyzantinischer Bild-
bestandteile und Streben nach vereinfachter knapper Bild-
komposition.
Die Fülle des zusammengetragenen Stoffes, die Sorgfalt der
Einzelbehandlung ist vorbildlich. Trotz aller oft sehr kompli-
zierten Einzeluntersuchungen wird doch der große zeitge-
schichtliche Hintergrund deutlich, wird vor allem das Heraus-
wachsen des Bildthemas und seiner Wandlungen aus der
theologisch-literarischen Ideenwelt der Zeit lebendig.
In sauberer, auf das Ikonographische sich beschränkender,
dieses aber um so schärfer fassender Methode wird das Thema
bis in alle Einzelheiten durchleuchtet. Das Werk Reils wird
als unentbehrliches Hilfsmittel für jede stilistische Unter-
suchung auf dem Gebiete der karolingischen Kunst unschätz-
bare Dienste leisten. J. Müller
Karl Zahn, Die Ausgrabung des romanischen
Domes in Regensburg. München (Callwey) 1931.
120 Seiten mit 48 Abbildungen im Text und 15 auf Tafeln.
Unsere moderne Baukunst ist durch ihre Rhythmen und
Zwecke zwar völlig anders als die frühromanische, und doch
besteht eine entfernte Gefühlsverwandtschaft in der Scheu
vor komplizierteren Kurven und Flächen, dem Auskommen
mit Formen der elementaren Stereometrie, dem Fehlen
selbständiger Schmuckformen, die an den Bau und seiner
Glieder anzuheften wären. Der Bau ist selbst Schmuckform,
bedarf keines Aufputzes. Ich glaube nicht, daß erst die
moderne Baukunst die Augen für die frühromanische ge-
öffnet hat — durchaus nicht —, aber für weitere Kreise mag
erst jetzt die Möglichkeit bestehen, frühromanische Bauten
in ihrer herben Großartigkeit mit innerer Empfänglichkeit
aufzunehmen, ja auch Freude zu haben an der bloßen
zeichnerischen Rekonstruktion längst verschwundener Werke,
die wohl früher nur als eine gelehrte Betätigung des Scharf-
sinns gelten gelassen wurde. Wir haben heute unsere Freude
an beidem: am wissenschaftlichen Resultat und an dem
wiedergewonnenen Kunstwerk, das uns etwas von der Seele
längst vergessener Menschen lebendig macht.
Wir kennen diese Seelenverfassung schon aus manchen
erhaltenen oder rekonstruierten Werken, aber jede neue
Rekonstruktion ist eine Bereicherung und dazu Bestätigung
unserer bisherigen Kenntnis.
Daß Reste des romanischen Domes von Regensburg er-
halten sind, wußte man, nicht nur der Nordwestturm, der
sog. Eselsturm, steht noch aufrecht, auch Teile der Nordseite,
aber eine genauere Kenntnis konnte erst durch Ausgrabungen
erreicht werden. Sie fanden 1924 statt. Der Ausgräber
mußte sieben Jahre warten, ehe die Ergebnisse gedruckt
werden konnten, hatte also Zeit genug zum Überlegen, und
so ist auch eine sehr reife Leistung zustande gekommen.
 
Annotationen