KUNSTCHRONIK UND KUNSTMARKT
HERAUSGEBER: GUSTAV KIRSTEIN
BERLINER REDAKTION: CURT GLASER WIENER REDAKTION: HANS TIETZE
NR. 43 22. JULI 1921
KÜNSTLERISCHE
UND KUNSTLITERARISCHE ZEITFRAGEN
VON HANS TIETZE
DAS Phänomen der Stunde ift die Krife des Expreffionismus, die offiziell
geworden ift, feitdem die berufsmäßigen Hüter und Vorkämpfer der mo-
dernen Kunft Bulletins über ihre fchwere Erkrankung veröffentlicht haben.
Nach Haufenftein's »Die Kunft in diefem Augenblick« nun Worringer's
»Künftlerifche Zeitfragen«/ nicht nur die gewohnte ftiliftifche Meifterfchaft, fon-
dern auch eine ungewöhnliche Ergriffenheit verleiht der neuen Schrift des
letzteren ihren befonderen Klang, Wie ein reuiger Sünder geht er mit fich
zu Gericht/ verwirft, was er vordem pries und findet eine fchaurige Leere,
wo er einft die Verheißungen einer werdenden Saat mit ebenfo beredten
Worten gepriefen hatte. Schonungslos, wie nur ein innerlich Ehrlicher es
kann, reißt er der Kunft unferer Tage die Maske vom Antlitz, enthüllt die
Lebenslüge des Expreffionismus, der die geiftigen Spannungen der Zeit zum
künftlerifdien Ausdruck zu bringen vermeinte und nur einen neuen äfthe=-
tifchen Reiz vom Stamm des Lebens abzufafern vermochte. Seine Verzückung
war nur das Fieber eines Todeskampfes,- noch einmal durchrafte die Kunft
in diefer fatalen Minute die ungeheuren Erregungen ihres jahrhundertelangen
Lebens,- es war der Krampf des Endes. Denn nur an den Rändern unferes
geiftigen Seins gefpenftert fie noch nach,- ihr Lebensftoff ift aufgefogen von
neuen Formen des gedanklichen Schaffens, transfubftanziert fich in die Ge-
ftaltungskraft neuer Richtungen des Denkens, in deren Schöpfertum wir den
wefentlichen Ausdruck unferer kulturellen Bedürfniffe erraten.
Der Inhalt der Anklage ift nicht neu, und daß ein Ton der Selbftan-
klage mitfchwingt, gibt ihr nur die Intenfität erlebter Wahrheit,- daß er diefe
Kunft geliebt und an fie geglaubt hat — und fie noch lieben und glauben
möchte —gibt Worringer das Recht, einen fcharfen Strich zwifchen fich und
den Philiftern zu ziehen, die fich am Genuß des Rechtbehaltenhabens mäften
dürfen und nicht ahnen muffen, daß der Weg das Glück ift und nicht das
Ziel und daß nur überwunden, nicht überfprungen haben, zu neuen Höhen
führt. Es ift die Perfon des Bekenners, nicht das Bekenntnis, das aufhorchen
macht,- wer hören konnte, mußte nach dem braufenden Überfchwall den
Katzenjammer erwarten. Schon das verhältnismäßig leichte Di^rchdringen des
HERAUSGEBER: GUSTAV KIRSTEIN
BERLINER REDAKTION: CURT GLASER WIENER REDAKTION: HANS TIETZE
NR. 43 22. JULI 1921
KÜNSTLERISCHE
UND KUNSTLITERARISCHE ZEITFRAGEN
VON HANS TIETZE
DAS Phänomen der Stunde ift die Krife des Expreffionismus, die offiziell
geworden ift, feitdem die berufsmäßigen Hüter und Vorkämpfer der mo-
dernen Kunft Bulletins über ihre fchwere Erkrankung veröffentlicht haben.
Nach Haufenftein's »Die Kunft in diefem Augenblick« nun Worringer's
»Künftlerifche Zeitfragen«/ nicht nur die gewohnte ftiliftifche Meifterfchaft, fon-
dern auch eine ungewöhnliche Ergriffenheit verleiht der neuen Schrift des
letzteren ihren befonderen Klang, Wie ein reuiger Sünder geht er mit fich
zu Gericht/ verwirft, was er vordem pries und findet eine fchaurige Leere,
wo er einft die Verheißungen einer werdenden Saat mit ebenfo beredten
Worten gepriefen hatte. Schonungslos, wie nur ein innerlich Ehrlicher es
kann, reißt er der Kunft unferer Tage die Maske vom Antlitz, enthüllt die
Lebenslüge des Expreffionismus, der die geiftigen Spannungen der Zeit zum
künftlerifdien Ausdruck zu bringen vermeinte und nur einen neuen äfthe=-
tifchen Reiz vom Stamm des Lebens abzufafern vermochte. Seine Verzückung
war nur das Fieber eines Todeskampfes,- noch einmal durchrafte die Kunft
in diefer fatalen Minute die ungeheuren Erregungen ihres jahrhundertelangen
Lebens,- es war der Krampf des Endes. Denn nur an den Rändern unferes
geiftigen Seins gefpenftert fie noch nach,- ihr Lebensftoff ift aufgefogen von
neuen Formen des gedanklichen Schaffens, transfubftanziert fich in die Ge-
ftaltungskraft neuer Richtungen des Denkens, in deren Schöpfertum wir den
wefentlichen Ausdruck unferer kulturellen Bedürfniffe erraten.
Der Inhalt der Anklage ift nicht neu, und daß ein Ton der Selbftan-
klage mitfchwingt, gibt ihr nur die Intenfität erlebter Wahrheit,- daß er diefe
Kunft geliebt und an fie geglaubt hat — und fie noch lieben und glauben
möchte —gibt Worringer das Recht, einen fcharfen Strich zwifchen fich und
den Philiftern zu ziehen, die fich am Genuß des Rechtbehaltenhabens mäften
dürfen und nicht ahnen muffen, daß der Weg das Glück ift und nicht das
Ziel und daß nur überwunden, nicht überfprungen haben, zu neuen Höhen
führt. Es ift die Perfon des Bekenners, nicht das Bekenntnis, das aufhorchen
macht,- wer hören konnte, mußte nach dem braufenden Überfchwall den
Katzenjammer erwarten. Schon das verhältnismäßig leichte Di^rchdringen des