909
Abb. 1. Dantebildnis aus der Weltgerichtsfreske des Nardo di Cione in S. Maria Novella
DAS DANTE.BILDNIS
SEIN URSPRUNG UND SEINE ENTFALTUNG
VON OSKAR WULFF
as Dante für die Geiltesgelchichte der
Menfchheit bedeutet, hat zuerfi Carlyle
mit wenigen Worten treffend ausgefprochen.
Sechs fchweigende Jahrhunderte des Mittel»
alters haben für uns in feiner Dichtung le-
bendigen Ausdruck ihrer Weltanfchauung
gewonnen. Was Dante unferer Zeit Befon»
deres zu Tagen hat, deflen find wir uns in
mancher fchönen Gedenkfeier der letzten
Monate bewußt geworden. Dem anfchau»
ungsdurftigen Menfchen aber ift es ein tiefes
Bedürfnis, jede große Perfönlichkeit, deren
Geifteshauch aus der Vergangenheit zu
ihm herüberweht, auch in ihrer leibhaftigen
»non tracfitos vuftus fingere« <Plinius>
Erfcheinung im Bilde zu erfaßen. So taucht
auch für uns die Frage wieder auf: — wiefteht
es um das Bildnis Dante s und um feinen
Wahrheitswert? Denn wie die Gelchichte
um den Charakter, fo fpinnt um jenes die
Kunft ihre Legende. Und diefe mag noch
fo fchön fein, fo bleibt es doch das Recht
und die Aufgabe wiflenlchaftlicher Kritik,
fie aufzulöfen. Bei Dante hat fie es fihon
wiederholt verfocht1), das letzte Wort aber
1) Die ältere Literatur wurde von Fr. X.
Kraus, Dante. Sein Leben und feine Werke.
Berlin 1897, S. 187 ff. zufammenfaffend ver»
arbeitet. Eine kritifche Nachprüfung gab J.
Abb. 1. Dantebildnis aus der Weltgerichtsfreske des Nardo di Cione in S. Maria Novella
DAS DANTE.BILDNIS
SEIN URSPRUNG UND SEINE ENTFALTUNG
VON OSKAR WULFF
as Dante für die Geiltesgelchichte der
Menfchheit bedeutet, hat zuerfi Carlyle
mit wenigen Worten treffend ausgefprochen.
Sechs fchweigende Jahrhunderte des Mittel»
alters haben für uns in feiner Dichtung le-
bendigen Ausdruck ihrer Weltanfchauung
gewonnen. Was Dante unferer Zeit Befon»
deres zu Tagen hat, deflen find wir uns in
mancher fchönen Gedenkfeier der letzten
Monate bewußt geworden. Dem anfchau»
ungsdurftigen Menfchen aber ift es ein tiefes
Bedürfnis, jede große Perfönlichkeit, deren
Geifteshauch aus der Vergangenheit zu
ihm herüberweht, auch in ihrer leibhaftigen
»non tracfitos vuftus fingere« <Plinius>
Erfcheinung im Bilde zu erfaßen. So taucht
auch für uns die Frage wieder auf: — wiefteht
es um das Bildnis Dante s und um feinen
Wahrheitswert? Denn wie die Gelchichte
um den Charakter, fo fpinnt um jenes die
Kunft ihre Legende. Und diefe mag noch
fo fchön fein, fo bleibt es doch das Recht
und die Aufgabe wiflenlchaftlicher Kritik,
fie aufzulöfen. Bei Dante hat fie es fihon
wiederholt verfocht1), das letzte Wort aber
1) Die ältere Literatur wurde von Fr. X.
Kraus, Dante. Sein Leben und feine Werke.
Berlin 1897, S. 187 ff. zufammenfaffend ver»
arbeitet. Eine kritifche Nachprüfung gab J.