— 36 —
grosser in doppelter Entfernung: das Bild auf der Netzhaut zeigt den
zweiten Stab halb so gross wie den ersten, tatsächlich sehen wir aber
den zweiten Stab nur um ein geringes verkleinert. Die Sehgrösse gleicht
die Grösseneindrücke aus. So wie die Netzhaut zeigt auch eine photo-
graphische Aufnahme oder eine perspektivisch konstruierte Zeichnung
die Gegenstände proportional der Entfernung verkleinert; so erscheint
dem Auge eine derartig korrekte Darstellung „verzeichnet". Mit Hilfe
des Veranten, eines optischen Instrumentes, wird eine derart verzeichnete
Photographie „plastisch" gesehen; je stärker die Verzeichnung ist („inner-
halb gewisser Grenzen"), desto geeigneter ist die Aufnahme, einen pla-
stischen Eindruck hervorzurufen. Jugendliche Augen, die sich mit Leich-
tigkeit akkommodieren können, ohne dass das Bild unscharf wird,
brauchen keinen Veranten, um zum plastischen Eindruck zu kommen;
sie nähern sich so weit dem Bilde, dass es „dasselbe Netzhautbild er-
zeugt, welches vom Original erzeugt werden würde". Augen, die mit
dem Veranten zu arbeiten gewöhnt sind, oder solche, die sielt schon
öfter dahin akkommodiert haben, den plastischen Eindruck zu erzielen,
kommen durch die Übung so weit, dass sie ohne Hilfsmittel, ohne be-
sondere Einstellung, auch binokular plastisch auffassen können. Die
Fraget haben die Renaissancekünstler, hat vor allem Dürer derartige
Verzeichnungen, die durch eine perspektivisch korrekte Darstellung ent-
stehen, nicht bemerkt? — ist dahin zu beantworten, dass die Kunst
dieser Zeit auf plastischen Eindruck ausging und darum die korrekt
perspektivische Zeichnung, die sich zur Hervorbringung des plastischen
Eindruckes besonders eignet, in ihren Bildern durchführte.
Zum Vordersatz, dass die Renaissance auf plastischen Eindruck aus-
ging, bestehen Bedenken von Hauck1), die zuerst durch Anführung litte-
rarischer Quellen (Alberti und Linardö) entkräftet werden sollen. Gegen
andere Bedenken Haucks, dass der plastische Eindruck nur bei Be-
trachtung des Bildes von einem ganz bestimmten Standort aus erreicht
werden könne und dass das Aufsuchen dieses einzigen Standortes eine
zu grosse Zumutung vom Künstler für den Betrachter wäre, werden
experimentelle Versuche angeführt, die beweisen, dass es durch Übung
möglich wird, ein Bild von einem beliebigen Standort plastisch zu sehen.
Und diese Übung besitzen die Renaissancekünstler und auch ihr Pub-
likum. Die Künstler, die mit verschiedenen Zeichenapparaten arbeiten
und dadurch genötigt sind, das „entstehende Werk fortwährend unter
richtigem Gesichtswinkel zu betrachten". Das Publikum, das nur Bilder
bekam, die „ihrer ganzen Anlage nach zur plastischen Auffassung heraus-
forderten" und in dieser Art Bildbetrachtung durch die häufige „Be-
schäftigung mit perspektivischen Spielereien" geübt war.
Hauck hat einen weiteren Gegengrund angeführt (p. 166): „Die
Netzhautbilder sind perspektivisch richtig. Die Korrektur, welche durch
das Auftreten der Tiefenwahrnehmung, und damit der Sehgrösse, an
den Grössenwerten vorgenommen wird, hat also zur Folge, dass gerade
ein perspektivisch richtiges Bild den „natürlichen" Eindruck erweckt.
Will man also ein Bild herstellen, auf dem die Grössenverhältnisse so,
9 Die malerische Perspektive, Berlin 1882.
grosser in doppelter Entfernung: das Bild auf der Netzhaut zeigt den
zweiten Stab halb so gross wie den ersten, tatsächlich sehen wir aber
den zweiten Stab nur um ein geringes verkleinert. Die Sehgrösse gleicht
die Grösseneindrücke aus. So wie die Netzhaut zeigt auch eine photo-
graphische Aufnahme oder eine perspektivisch konstruierte Zeichnung
die Gegenstände proportional der Entfernung verkleinert; so erscheint
dem Auge eine derartig korrekte Darstellung „verzeichnet". Mit Hilfe
des Veranten, eines optischen Instrumentes, wird eine derart verzeichnete
Photographie „plastisch" gesehen; je stärker die Verzeichnung ist („inner-
halb gewisser Grenzen"), desto geeigneter ist die Aufnahme, einen pla-
stischen Eindruck hervorzurufen. Jugendliche Augen, die sich mit Leich-
tigkeit akkommodieren können, ohne dass das Bild unscharf wird,
brauchen keinen Veranten, um zum plastischen Eindruck zu kommen;
sie nähern sich so weit dem Bilde, dass es „dasselbe Netzhautbild er-
zeugt, welches vom Original erzeugt werden würde". Augen, die mit
dem Veranten zu arbeiten gewöhnt sind, oder solche, die sielt schon
öfter dahin akkommodiert haben, den plastischen Eindruck zu erzielen,
kommen durch die Übung so weit, dass sie ohne Hilfsmittel, ohne be-
sondere Einstellung, auch binokular plastisch auffassen können. Die
Fraget haben die Renaissancekünstler, hat vor allem Dürer derartige
Verzeichnungen, die durch eine perspektivisch korrekte Darstellung ent-
stehen, nicht bemerkt? — ist dahin zu beantworten, dass die Kunst
dieser Zeit auf plastischen Eindruck ausging und darum die korrekt
perspektivische Zeichnung, die sich zur Hervorbringung des plastischen
Eindruckes besonders eignet, in ihren Bildern durchführte.
Zum Vordersatz, dass die Renaissance auf plastischen Eindruck aus-
ging, bestehen Bedenken von Hauck1), die zuerst durch Anführung litte-
rarischer Quellen (Alberti und Linardö) entkräftet werden sollen. Gegen
andere Bedenken Haucks, dass der plastische Eindruck nur bei Be-
trachtung des Bildes von einem ganz bestimmten Standort aus erreicht
werden könne und dass das Aufsuchen dieses einzigen Standortes eine
zu grosse Zumutung vom Künstler für den Betrachter wäre, werden
experimentelle Versuche angeführt, die beweisen, dass es durch Übung
möglich wird, ein Bild von einem beliebigen Standort plastisch zu sehen.
Und diese Übung besitzen die Renaissancekünstler und auch ihr Pub-
likum. Die Künstler, die mit verschiedenen Zeichenapparaten arbeiten
und dadurch genötigt sind, das „entstehende Werk fortwährend unter
richtigem Gesichtswinkel zu betrachten". Das Publikum, das nur Bilder
bekam, die „ihrer ganzen Anlage nach zur plastischen Auffassung heraus-
forderten" und in dieser Art Bildbetrachtung durch die häufige „Be-
schäftigung mit perspektivischen Spielereien" geübt war.
Hauck hat einen weiteren Gegengrund angeführt (p. 166): „Die
Netzhautbilder sind perspektivisch richtig. Die Korrektur, welche durch
das Auftreten der Tiefenwahrnehmung, und damit der Sehgrösse, an
den Grössenwerten vorgenommen wird, hat also zur Folge, dass gerade
ein perspektivisch richtiges Bild den „natürlichen" Eindruck erweckt.
Will man also ein Bild herstellen, auf dem die Grössenverhältnisse so,
9 Die malerische Perspektive, Berlin 1882.