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Flächigkeit und die des Materialzwanges als polare Forderungen dem
Gestalten der künstlerischen Vorstellungen entgegenstellt. Dieses Wissen
lässt keine irgendwie geartete Wirklichkeitsillusion in uns aufkommen
und wir können auch dieses Wissen als ein integrierendes Element nie-
mals aus dem Eindruck des Kunstwerkes ausscheiden. Nur beim Pano-
rama überkommt uns die Illusion der Wirklichkeit — und das Panorama
zählt nicht zur Kunst.
Dass die Renaissancemalerei auf plastischen Eindruck ausging, ist
für eine grosse Anzahl der Werke sicher richtig. Der plastische Eindruck
wird erzielt, indem viele Einzelheiten gegeben und betont sind, bei deren
Nacherleben taktische Erinnerungsvorstellungen geweckt werden, wie
man sie nur bei dreidimensionalen Körpern erwerben konnte. Darum
wurden klar isolierte (statuarische) Figuren ins Bild gestellt, darum werden
die Gewänder, die die Körperformen dissimulieren zu konstruktiven ver-
ändert oder ganz weggelassen, darum werden die Gelenke, die Hände,
diese wichtigen Träger taktischer Einlebungsfunktionen blossgelegt und
durch Einzeldurchbildung und Grösse hervorgehoben. Das Auge, das
an diesen auffallenden Merkzeichen im Bilde hängen bleibt, isoliert sie,
erlebt sie als wichtige Punkte, die taktische Erinnerungsvorstellungen
auslösen und mit diesen dem ganzen Bild die Richtung geben. Und
darauf allein kommt es an. Dass Schleierapparate und ähnliche Hilfs-
mittel benützt wurden, durch die korrekt konstruierte, also verzeichnete
Bilder entstehen, ist eine Tatsache; doch scheint sie für das XV. Jahrh.
eine ähnlich vorübergehende Mechanisierung des Schöpfungsprozesses zu
sein, wie es etwa für das Ende des XIX. Jahrh. die Verwertung von
Momentaufnahmen für künstlerische Bewegungsdarstellungen war. Zer
Erzielung eines Raumeindruckes ist das perspektivisch völlig durc'rkon-
struierte Bild nicht nötig; hierzu genügen die motorisch umsetzbaren
Hauptlinien '). Dass die verzeichneten, vergrösserten Kompositionsglieder,
die zu schnellen Verkürzungen in die Tiefe herausgegriffen und durch
ihre Isolierung erst zu wichtigen Punkten der taktischen Erfassung des
Bildes hervorgehoben werden, bezeugt die Weiterentwicklung, die Kunst
Michelangelos, der ohne in perspektivischen Konstruktionen befangen zu
sein, „verzeichnete" und nur dort „verzeichnete", wo die gewaltige
Durchbildung der Glieder, die jähe Durchstossung der Fläche zum Raum
die höchste Lebendigkeit ausdrückte und das Auge zum Nacherlebnis
zwang. E. Tietze-Conrat.
Giuseppe Ceci, Saggio di una bibliografia per la
storia delle arti figurative nell'Italia meridionale.
Bari, Laterza & figli i9ii.
Das Schlusswort, in welchem Benedetto Croce im Jahre 1907 sich
von den Lesern der „Napoli nobilissima" verabschiedete und ebenso
9 Vgl, meine Besprechung vom Fritz Goldschmidt, Pontormo, Rosso
Bronzino in den Kunstgeschichtlichen Anzeigen 1912, 1. Heft.
Flächigkeit und die des Materialzwanges als polare Forderungen dem
Gestalten der künstlerischen Vorstellungen entgegenstellt. Dieses Wissen
lässt keine irgendwie geartete Wirklichkeitsillusion in uns aufkommen
und wir können auch dieses Wissen als ein integrierendes Element nie-
mals aus dem Eindruck des Kunstwerkes ausscheiden. Nur beim Pano-
rama überkommt uns die Illusion der Wirklichkeit — und das Panorama
zählt nicht zur Kunst.
Dass die Renaissancemalerei auf plastischen Eindruck ausging, ist
für eine grosse Anzahl der Werke sicher richtig. Der plastische Eindruck
wird erzielt, indem viele Einzelheiten gegeben und betont sind, bei deren
Nacherleben taktische Erinnerungsvorstellungen geweckt werden, wie
man sie nur bei dreidimensionalen Körpern erwerben konnte. Darum
wurden klar isolierte (statuarische) Figuren ins Bild gestellt, darum werden
die Gewänder, die die Körperformen dissimulieren zu konstruktiven ver-
ändert oder ganz weggelassen, darum werden die Gelenke, die Hände,
diese wichtigen Träger taktischer Einlebungsfunktionen blossgelegt und
durch Einzeldurchbildung und Grösse hervorgehoben. Das Auge, das
an diesen auffallenden Merkzeichen im Bilde hängen bleibt, isoliert sie,
erlebt sie als wichtige Punkte, die taktische Erinnerungsvorstellungen
auslösen und mit diesen dem ganzen Bild die Richtung geben. Und
darauf allein kommt es an. Dass Schleierapparate und ähnliche Hilfs-
mittel benützt wurden, durch die korrekt konstruierte, also verzeichnete
Bilder entstehen, ist eine Tatsache; doch scheint sie für das XV. Jahrh.
eine ähnlich vorübergehende Mechanisierung des Schöpfungsprozesses zu
sein, wie es etwa für das Ende des XIX. Jahrh. die Verwertung von
Momentaufnahmen für künstlerische Bewegungsdarstellungen war. Zer
Erzielung eines Raumeindruckes ist das perspektivisch völlig durc'rkon-
struierte Bild nicht nötig; hierzu genügen die motorisch umsetzbaren
Hauptlinien '). Dass die verzeichneten, vergrösserten Kompositionsglieder,
die zu schnellen Verkürzungen in die Tiefe herausgegriffen und durch
ihre Isolierung erst zu wichtigen Punkten der taktischen Erfassung des
Bildes hervorgehoben werden, bezeugt die Weiterentwicklung, die Kunst
Michelangelos, der ohne in perspektivischen Konstruktionen befangen zu
sein, „verzeichnete" und nur dort „verzeichnete", wo die gewaltige
Durchbildung der Glieder, die jähe Durchstossung der Fläche zum Raum
die höchste Lebendigkeit ausdrückte und das Auge zum Nacherlebnis
zwang. E. Tietze-Conrat.
Giuseppe Ceci, Saggio di una bibliografia per la
storia delle arti figurative nell'Italia meridionale.
Bari, Laterza & figli i9ii.
Das Schlusswort, in welchem Benedetto Croce im Jahre 1907 sich
von den Lesern der „Napoli nobilissima" verabschiedete und ebenso
9 Vgl, meine Besprechung vom Fritz Goldschmidt, Pontormo, Rosso
Bronzino in den Kunstgeschichtlichen Anzeigen 1912, 1. Heft.