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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 18.1906-1907

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Michel, Wilhelm: Die Münchener "Lehr- und Versuchateliers für angewandte und freie Kunst" (W. v. Debschitz)
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https://doi.org/10.11588/diglit.4869#0118

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1 10

DIE MÜNCHENER LEHR- UND VERSUCHATELIERS

O. BLUMEL.

Mit besonderem Nachdruck hat die Entdeckung,
die Wiederentdeckung des Individuums auf die Geister
der Erzieher eingewirkt. Es ist durchaus kein Zufall,
daß Max Stirner, der dem Egotismus seinen radikalsten
Ausdruck gab, sich schon sehr frühe zur Frage der
Erziehung in einem bedeutsamen, viel beachteten Auf-
satze geäußert hat. Vielleicht ist er sogar der erste
gewesen, der die pädagogischen Folgerungen aus dem
neuen individualistischen Gedanken klar formuliert hat.
Da das Individuum seinem Wesen nach Charakter,
das heißt Wille, ist, geht alle Erziehung fehl, die sich
nicht an den Willen wendet. Die spezifische Funktion
des Willens ist Leben, und das Ziel der Erziehung
muß daher das sein,
den jungen Menschen
die Dinge erleben zu
lassen. Mit der Auf-
nötigung eines gewissen
Quantums an Gedächt-
nisstoff ist gar nichts
getan. Der Lehrstoff
muß ein Bestandteil
des Lebens im Schüler
werden. Lernen heißt
nun nicht mehr memo-
rieren, sondern assimi-
lieren; der Gegensatz
zwischen Schule und
Leben verschwindet,
und die Schule hat
fortan nichts zu sein als
ein Mittel, um auf me-
thodische Weise mög-
lichst gedrängtes und
fruchtbares Erleben an
den Schüler heranzu-
tragen.

Max Stirners Haupt-
werk »Der Einzige und
sein Eigentum« hat
heute nur noch histo-
rischen Wert. Aber
diese seine Erziehungs-
parole erweist sich
heute noch wirksamer
als je. Er hat da-
mit das Ideal aufge-
stellt, das mit geringen Abänderungen jedem mo-
dernen Pädagogen vorschwebt. Es hat auch auf dem
besonderen Gebiete der Kunsterziehung Geltung er-
langt, und der erste entschiedene Versuch, dieses Ideal
zu verwirklichen, bildet den Gegenstand dieser Ver-
öffentlichung. Es sind die vonWilhelm von Debschitz
geleiteten »Lehr- und Versuchateliers für angewandte
und freie Kunst< in München.

Eine eingehende, polemische Gegenüberstellung
des bisherigen Kunstunterrichtes und dem, was Wilhelm
von Debschitz anstrebt, kann ich mir ersparen. Es
muß genügen, kurz auf das Positive seiner Lehrvveise
einzugehen. Das schlechte Beispiel, das heute noch
an zahlreichen Akademien und Kunstschulen gegeben

wird, gibt auch ohne ausdrückliche Erwähnung dazu
eine hinlängliche Folie ab.

Die ganze Organisation und Lehrmethode des er-
wähnten Institutes atmet den neuen erzieherischen
Geist, der oben andeutungsweise gekennzeichnet wurde.
Als oberstes Prinzip gilt das Bestreben, in allen Fällen
den Schaffenstrieb des Schülers in Tätigkeit und An-
regung zu setzen. W. v. Debschitz geht von der
Überzeugung aus, daß jeder Mensch von Kind auf
zum Schaffen veranlagt ist, daß in jedem Menschen
eine zeugende, schöpferische Kraft liegt und daß nur
diejenige Arbeit Genuß gewährt, die diesen natür-
lichen Schaffenstrieb beschäftigt und fördert. Beim

Kunstschüler aber be-
deutet Schaffen nichts
anderes als optisch Er-
lebtes individuell dar-
stellen. An der Aka-
demie lernen die Schü-
ler so sehen, wie ihre
Meister sehen, das
heißt, sie fangen damit
an, womit Andere auf-
gehört haben. Sie wer-
den dadurch verhin-
dert, die sinnliche Er-
scheinung der Dinge
auf eigene Faust zu er-
leben und werden bei
allem guten Willen der
Lehrer einem Manieris-
mus ausgeliefert, der
das Beste in ihnen von
vornherein erstickt. Mit
diesem Grundirrtum
der bisherigen Kunst-
pädagogik hat v. Deb-
schitz in der schroff-
sten Weise gebrochen.
Sein Streben geht da-
hin, den Schüler in
ein persönliches Ver-
hältnis zu den Dingen
zu bringen und auf
diese Weise Schöpfer,
nicht bloße Nachahmer
heranzubilden.
Zu »Schöpfern« in diesem Sinne lassen sich nicht
nur bildende und kunstgewerblich entwerfende Künstler
heranbilden, sondern auch Industriezeichner und Hand-
werker, welch letztere ja einen außerordentlich wich-
tigen Bestandteil der in kunstgewerblichen Diensten
stehenden Mannschaft bilden. Denn auch die bloße
Ausführung eines fremden Entwurfes ist ein Nach-
schaffen, nicht ein Nachahmen, ist eine produktive,
neue Werte erzeugende Tätigkeit.

Es versteht sich von selbst, daß dieses Ziel nur
erreicht werden kann durch äußerstes Eingehen auf
die Psyche des Schülers, auf die Art und die Stärke
seiner Begabung. Zur Ermöglichung dieses Eingehens
bedarf es einer von aller bureaukratischen Starrheit

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