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DIE MÜNCHENER LEHR- UND VERSUCHATELIERS
O. REYNIER.
DOSEN IN GEDRECHSELTEM UND GESCHNITZTEM HOLZ MIT EINLAGEN IN SILBER UND SCHILDPATT,
ALS KNÖPFE HALBEDELSTEINE
liebere, umfassendere Weise bewußt werden. Für
Wilhelm von Debscliitz und seine Lehrweise ist die
Natur selbst Künstlerin, die ihre nüchternen, leben-
digen Zwecke auf dem Wege ästhetisch wertvoller
Gestaltung zu erreichen weiß. In den Sinn ihres
Schaffens soll der Schüler eindringen, ihre Vernunft
und ihre Gestaltungskraft soll er schätzen lernen, und
als Gewinn dieses Studiums soll er nicht kopierte
oder stilisierte Formen davontragen, sondern Gesetze
und Normen, die er seinem eigenen Schaffen zu-
grunde legen kann. Er soll die Formen der Natur
nicht nachahmen, sondern den Schaffensprozeß er-
leben, der ihnen zugrunde liegt, das Prinzip erleben,
nach welchem sie entstanden. Auf diese Weise liefert
ihm die einzelne, zufällige Form das feste, vielfältiger
Anwendung fähige Gesetz. Daher erklärt es sich denn
auch, daß man in den kunstgewerblichen Arbeiten
der Schule niemals einer glatt übernommenen oder
auch »stilisierten« Naturform begegnet, sondern nur
der Anwendung jener abstrakten dekorativen Gesetze,
welcher schließlich die Natur des Materials die letzte,
entscheidende Modifizierung gibt. Das Naturstudium,
wie es in den »Lehr- und Versuchateliers« gepflegt
wird, verbindet höchste Sachlichkeit mit höchster
Geistigkeit. Das scheint mir kein geringes Verdienst
in einer Zeit, die zwischen beiden Gegensätzen haltlos
hin und her schwankt.
Auf die einzelnen Schülerarbeiten einzugehen,
glaube ich mir ersparen zu können. Darauf beruht
eben die Arbeitsteilung bei einer illustrierten Publi-
kation, daß das geschriebene Wort zu geben sucht,
was die Abbildungen nicht geben können, und um-
gekehrt. Nach meiner Absicht soll beides zusammen
beweisen, daß die »Lehr- und Versuchateliers für
angewandte und freie Kunst« einen wichtigen Faktor
im kunstgewerblichen Streben der Gegenwart dar-
stellen, einen Faktor, der nicht ohne merklichen
Schaden entbehrt werden könnte. In einer Zeit, die
nahe daran zu sein scheint, die Resignation oder die
Armut der Erfindungsgabe als letzte Weisheit des
Kunstgewerblers auszurufen, ist dieses Institut eine
Hüterin und eine Pflegerin der schmuckfrohen, ge-
staltenreichen Phantasie. Als solche hat es den Beruf
und die Fähigkeit, zum Ausbau der neuen künst-
lerischen Bestrebungen Wesentliches beizutragen, damit
das große Ziel erreicht werde, das all diesem Drängen
und Treiben zugrunde liegt: die künstlerische Selbst-
darstellung der neuen Zeit im Apparat des täglichen
Lebens.
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K. WAENTIG. ETIKETTE
DIE MÜNCHENER LEHR- UND VERSUCHATELIERS
O. REYNIER.
DOSEN IN GEDRECHSELTEM UND GESCHNITZTEM HOLZ MIT EINLAGEN IN SILBER UND SCHILDPATT,
ALS KNÖPFE HALBEDELSTEINE
liebere, umfassendere Weise bewußt werden. Für
Wilhelm von Debscliitz und seine Lehrweise ist die
Natur selbst Künstlerin, die ihre nüchternen, leben-
digen Zwecke auf dem Wege ästhetisch wertvoller
Gestaltung zu erreichen weiß. In den Sinn ihres
Schaffens soll der Schüler eindringen, ihre Vernunft
und ihre Gestaltungskraft soll er schätzen lernen, und
als Gewinn dieses Studiums soll er nicht kopierte
oder stilisierte Formen davontragen, sondern Gesetze
und Normen, die er seinem eigenen Schaffen zu-
grunde legen kann. Er soll die Formen der Natur
nicht nachahmen, sondern den Schaffensprozeß er-
leben, der ihnen zugrunde liegt, das Prinzip erleben,
nach welchem sie entstanden. Auf diese Weise liefert
ihm die einzelne, zufällige Form das feste, vielfältiger
Anwendung fähige Gesetz. Daher erklärt es sich denn
auch, daß man in den kunstgewerblichen Arbeiten
der Schule niemals einer glatt übernommenen oder
auch »stilisierten« Naturform begegnet, sondern nur
der Anwendung jener abstrakten dekorativen Gesetze,
welcher schließlich die Natur des Materials die letzte,
entscheidende Modifizierung gibt. Das Naturstudium,
wie es in den »Lehr- und Versuchateliers« gepflegt
wird, verbindet höchste Sachlichkeit mit höchster
Geistigkeit. Das scheint mir kein geringes Verdienst
in einer Zeit, die zwischen beiden Gegensätzen haltlos
hin und her schwankt.
Auf die einzelnen Schülerarbeiten einzugehen,
glaube ich mir ersparen zu können. Darauf beruht
eben die Arbeitsteilung bei einer illustrierten Publi-
kation, daß das geschriebene Wort zu geben sucht,
was die Abbildungen nicht geben können, und um-
gekehrt. Nach meiner Absicht soll beides zusammen
beweisen, daß die »Lehr- und Versuchateliers für
angewandte und freie Kunst« einen wichtigen Faktor
im kunstgewerblichen Streben der Gegenwart dar-
stellen, einen Faktor, der nicht ohne merklichen
Schaden entbehrt werden könnte. In einer Zeit, die
nahe daran zu sein scheint, die Resignation oder die
Armut der Erfindungsgabe als letzte Weisheit des
Kunstgewerblers auszurufen, ist dieses Institut eine
Hüterin und eine Pflegerin der schmuckfrohen, ge-
staltenreichen Phantasie. Als solche hat es den Beruf
und die Fähigkeit, zum Ausbau der neuen künst-
lerischen Bestrebungen Wesentliches beizutragen, damit
das große Ziel erreicht werde, das all diesem Drängen
und Treiben zugrunde liegt: die künstlerische Selbst-
darstellung der neuen Zeit im Apparat des täglichen
Lebens.
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K. WAENTIG. ETIKETTE