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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 4.1961

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Nr. 2
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Krämer-Badoni, Rudolf: "Wir müssen wissen, wer wir sind": ist das Gymnasium noch notwendig?
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https://doi.org/10.11588/diglit.33060#0028
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machen! Wer in diesem veithinreichenden Bewußtsein lebt und handelt und forscht und
sich bildet, ja, der kann erst wirklich der dialektische, spiritueH-materieile, humanistisch-
technische Europäer sein, der er von jeher ist. Und dem kein Unbehagen an der Kuitur
die TatkraA lähmt.

Wer wagt zu giauben, das Mathematik-Pensum des humanistischen Gymnasiums
verbiete das Studium der Atomphysik oder das etwas größere Pensum des Realgym-
nasiums erieichtere dieses Studium wesentiich? Das kann nur ein Laie behaupten. Nur
die Physiker sind zur Antwort berechtigt — und diese Antworten iiegen längst vor.

Es geht nämiich nicht darum, wie früh ein junger Mensch fähig wird, Maschinen
und kosmische Formeln zu entwerfen. Auch den Schuireformen aiier Farben geht es
nicht darum, sonst würden sie nidit immer wieder veriangen, die Knaben und Mädchen
vor der Pubertät dem Geist nur „wie im Spiel" auszusetzen. Dehnt das „Spiei" ruhig
ein wenig weiter aus, freiiich in anderem Sinn, denn das Spiel ist sehr ernst, wir müssen
nämiich wissen, wer wir sind, wenn wir uns in unserem spezihsch europäischen Geist
behaupten woiien.

Schenkt doch um Gottes wiilen euren Kindern die Gelegenheit, ein paar jugend-
frische Jahre Iang einen großäugigen Blick auf das Principium Europas zu werfen! Das
hat keinen einzeihaften Zweck, sondern einen Zweck in sich seibst. Laßt eure Kinder
sich umsehen, sich zureAthnden in unserer uraiten, jahrtausendiang tägiich erneuerten
Weit! Laßt sie erfahren, woher wir kommen, so werden sie sich vielieicht Gedanken
darüber machen, wohin die Reise geht, und tätig daran mitwirken.

Aber das wäre schon wieder eine zweckbedingte Rechtfertigung. Nein, zweckfrei
soiite dieser jugendfrische Umbiick sein. Esei mögen dann zwe&frei ais zwecklos denun-
zieren, das stört uns nicht.

Wann anders als in der Jugend soll der Europäer diesen herrlichen Rundblick tun?
Wem diese zweckfreie Bewußtwerdung nicht in jungen Jahren geschenkt wird, dem wird
sie nie mehr zuteii. Denn bald pa&en ihn die Zwe&e, dann gilt es, sich im Beruf zu
behaupten, zu bilden, zu vervollkommnen.

Derz 'noff ^HJer

Stellen Sie sich vor, lieber Vater, lieber Schulmann, lieber Kultusminister: Ihr Sohn
wird eines Tages intereuropäischer Fahrplankoordinator oder überlasteter General-
direktor in der Kunststoffindustrie oder ein von Terminen zugede&tcr Strafrichter -
was ziehen Sie vor: daß Ihr Sohn schon in seiner Jugend denselben nützlichen und
bitter notwendigen Quatsch vorgeübt hat, oder daß er seinem Beruf nachgeht mit einem
Herzen voll unverlöschlich strahlender Bilder und Figuren und Worte?

Was ziehen Sie vor: daß Ihr Sohn nicht über seine Fahrpläne oder Kunststolf-
utensilien oder Straffälle hinwegblickt, oder daß ihm immer wieder einmal einfällt,
woher Odysseus kam und wohin seine schmerzliche Entdeckungsfahrt ging? Nach Hause,
aber auf verwandelndem Weg. Ziehen Sie vor, einen funktionierenden, bewußtlosen
Roboter oder einen selbstbewußten, von Melancholie und Hoffnung begleiteten Geist
zum Sohn zu haben? Auch und gerade wenn er technische, typisch europäische Dis-
ziplinen einschlägt?

Wir haben das humanistische Gymnasium nicht verteidigt. Es braucht keine Ver-
teidigung. Wir haben auch keine DenkschriA verfaßt, die auf Ministertischen ins Ge-
wicht fallen könnte. Wir wollten nichts anderes als sehen, was wir uns und unseren
Kindern von dieser Einrichtung versprechen.

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