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3. Naturmenschentum auf der Bühne.
Das Retournons ä la nature, das Rousseau als neues Evan-
gelium verkündet hatte, konnte auf die schöne Literatur nicht
ohne Einfluss sein. Die falsche Ansicht, dass die von der
Kultur wenig oder gar nicht berührten Menschen die Tugenden
am glänzensten verkörperten, verleitete dazu, auf der Bühne
derartige Gestalten zu zeigen und im Gegensatz zu der ver-
dorbenen Kulturmenschheit zu bringen. Walwais ist ein solcher
Edelmensch. In ländlicher Umgebung aufgewachsen, unver-
dorben durch die Laster der Städte ist er ein Musterbild von
Uneigennützigkeit, Freundestreue, Eltern- und Nächstenliebe.
Ein ähnlicher Charakter ist der alte Bauer im Inkognito, der
sein Vermögen zusammengerafft hat, um seinen einstigen Wohl-
täter aus dem Kerker zu befreien.
Die Naturschwärmerei hatte einen unglaublich hohen Grad
erreicht. Von dem Treiben der Gebildeten berichtet ein Zeit-
genosse : „Ich trieb alle Torheiten der freien kräftigen genialen
Zeit, zog tagelang durch die Wälder ohne andere Nahrung als
Kartoffeln und Wasser, badete mich in der kalten Jahreszeit
in Bächen, schlief auf dem nackten Boden unter einem Baume
und fragte nach Gebrauch, Regel, Herkommen und Ordnung
wenig.1)“
Die Rousseausche Theorie führte noch weiter. Konsequent
verfolgt, mussten nach ihr die auf der niedrigsten Stufe stehenden
Menschen auch die besten sein. Indianer uud Neger erregten
lebhaftes Interesse.
Von ihrem Leben und Treiben, ihren Sitten und Gebräuchen
wollte man etwas erfahren. Gerne mochte man sich hinein-
träumen in ein paradiesisches Land auf einer Insel, die von
sanften Wogen umspielt, von einem heiteren Himmel umblaut,
fern von der Kulturmenschheit, liegen musste. In diesem Utopien
glaubte man harmlos die Freuden der Natur geniessen, wunsch-
los den Frieden finden zu können, den der alte Erdteil nicht
Weitzel, Das Merkwürdigste aus meinem Leben und meiner Zeit.
Leipzig 1821, S. 101 ff.
3. Naturmenschentum auf der Bühne.
Das Retournons ä la nature, das Rousseau als neues Evan-
gelium verkündet hatte, konnte auf die schöne Literatur nicht
ohne Einfluss sein. Die falsche Ansicht, dass die von der
Kultur wenig oder gar nicht berührten Menschen die Tugenden
am glänzensten verkörperten, verleitete dazu, auf der Bühne
derartige Gestalten zu zeigen und im Gegensatz zu der ver-
dorbenen Kulturmenschheit zu bringen. Walwais ist ein solcher
Edelmensch. In ländlicher Umgebung aufgewachsen, unver-
dorben durch die Laster der Städte ist er ein Musterbild von
Uneigennützigkeit, Freundestreue, Eltern- und Nächstenliebe.
Ein ähnlicher Charakter ist der alte Bauer im Inkognito, der
sein Vermögen zusammengerafft hat, um seinen einstigen Wohl-
täter aus dem Kerker zu befreien.
Die Naturschwärmerei hatte einen unglaublich hohen Grad
erreicht. Von dem Treiben der Gebildeten berichtet ein Zeit-
genosse : „Ich trieb alle Torheiten der freien kräftigen genialen
Zeit, zog tagelang durch die Wälder ohne andere Nahrung als
Kartoffeln und Wasser, badete mich in der kalten Jahreszeit
in Bächen, schlief auf dem nackten Boden unter einem Baume
und fragte nach Gebrauch, Regel, Herkommen und Ordnung
wenig.1)“
Die Rousseausche Theorie führte noch weiter. Konsequent
verfolgt, mussten nach ihr die auf der niedrigsten Stufe stehenden
Menschen auch die besten sein. Indianer uud Neger erregten
lebhaftes Interesse.
Von ihrem Leben und Treiben, ihren Sitten und Gebräuchen
wollte man etwas erfahren. Gerne mochte man sich hinein-
träumen in ein paradiesisches Land auf einer Insel, die von
sanften Wogen umspielt, von einem heiteren Himmel umblaut,
fern von der Kulturmenschheit, liegen musste. In diesem Utopien
glaubte man harmlos die Freuden der Natur geniessen, wunsch-
los den Frieden finden zu können, den der alte Erdteil nicht
Weitzel, Das Merkwürdigste aus meinem Leben und meiner Zeit.
Leipzig 1821, S. 101 ff.