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Gramsch, Robert; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Das Reich als Netzwerk der Fürsten: politische Strukturen unter dem Doppelkönigtum Friedrichs II. und Heinrichs (VII.) 1225 - 1235 — Mittelalter-Forschungen, Band 40: Ostfildern, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.34756#0089

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2. Weitreichende Entscheidungen: Die Krise von 1225/26

Geschehens, auf die es hier vor allem ankommt. Die netzwerkanalytische Perspektive
erklärt gerade diesen Zusammenhang der Dinge zum Gegenstand ihres Interesses. Sie
steht damit durchaus in einer altehrwürdigen historiographischen Tradition. „Man soll
Begebenheiten, die zusammen ein System ausmachen, nicht in der Erzählung trennen",
postulierte Johann Christoph Gatterer, Professor in Göttingen 1767. Im Aufsuchen des
„Nexus rerum universalis", der wechselseitigen Verbindung aller Ereignisse in der Welt,
liege das eigentliche Ziel der Geschichtsschreibung.^
Auch wenn sich ein solches Erkenntnis- und Darstellungsprinzip keineswegs verab-
solutieren lässt, macht es doch im Hinblick auf unseren Untersuchungsgegenstand Sinn.
Die Reichspolitik bildete ein komplexes Geflecht verschiedener Handlungsfelder und
Akteurskonstellationen, welches es nachzuzeichnen gilt. Da hierbei mit vielfältigen, auch
überraschenden kausalen Verknüpfungen zu rechnen ist, muss das Untersuchungsfeld
weit gefasst werden. Eine so verstandene Reichsgeschichte lässt sich nicht einfach an-
hand eines Herrscheritinerars in einem Zug heruntererzählen. Es geht um eine dichte
Beschreibung, welche „so tief wie möglich in die politische Geschichte (eindringt), und
zwar auch (in) die politische Geschichte der Länder, der Fürsten und ihrer Helfer, wobei
man vor keiner Einzelheit zurückschrecken darf. "3
Eine solche Beschreibung komplexer Handlungszusammenhänge hat freilich Gren-
zen, jenseits derer die Darstellung an Einsichtigkeit und Überzeugungskraft verliert. Es
fragt sich dann, wie der Historiker sicherstellen will, dass er die wechselseitige Bedingt-
heit des Geschehens überschaut. Wie will er Wichtiges vom Unwichtigen trennen, wie
will er diese seine Entscheidungen begründen? An dieser Stelle tritt die Netzwerkanalyse
der traditionellen Quellenarbeit und ereignisgeschichtlichen Erzählung zur Seite. Sie
stellt gewissermaßen eine Metasprache zur Erörterung der (formalen) Struktur des sich
in den beschriebenen Ereignissen konstituierenden Wirkungsverbundes Reich bereit. Die
Komplexitätsreduktion historischer Wirklichkeit liegt hier also nicht in der Herausprä-
parierung und getrennten Untersuchung einzelner Handlungsstränge, sondern in der
Vereinfachung der Beschreibung eines Gesamtzusammenhangs: Die komplexe historische
Realität wird in ein Netzwerkmodell überführt, welches mathematisch analysierbar ist.
Diese formale Analyse ermöglicht dann die Formulierung von Wrwüfiüiycti hinsichtlich
bestehender kausaler Zusammenhänge und der Bedeutung bestimmter Ereignisse, denen
mit dem gewohnten Instrumentarium historisch-kritischen Arbeitens weiter nachzugehen
ist.
So wird denn im Folgenden der Argumentationsgang zwischen der formalen Be-
schreibung und Analyse des „Netzwerkes Reich" (als eines Modells der historischen
Realität) und der dichten Beschreibung des historischen Geschehens, welche auf dem
zuvor gewonnenen tieferen Verständnis möglicher Sachzusammenhänge aufruht, hin und
her gehen. Denn dass auf die historische Erzählung nicht verzichtet werden kann, liegt
^ Vgl. hierzu THOMAS PRÜFER, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge
der modernen Geschichtswissenschaft (Beiträge zur Geschichtskultur, 24) Köln / Weimar 2002,
S. 250-53 (darin S. 252 das o.g. Zitat aus Gatterers Schrift „Vom historischen Plan").
3 So HERMANN SiöBE treffend in DERS., Der Abfall der Arnsteiner von Kaiser Friedrich II.
und die Entstehung der brandenburgischen Kur, in: Wissenschaftliche Zs. der FSU Jena,
Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe, Jg. 6 (1956/57), S. 769-792, hier: S. 772.
HANS-MARTiN ScHALLER hat diesen Ansatz in seiner Rezension zu Stöbe ausdrücklich gelobt,
vgl. DERS., Rezension zu H. Stöbe: Abfall der Arnsteiner, in: DA 14 (1958), S. 556f. Kritischer
über Stöbes praktisch ins Spekulative abgleitende Studie urteilen KARL JORDAN, Rezension zu
H. Stöbe: Abfall der Arnsteiner, in: HZ 186 (1958), S. 453f., und vor allem GERD HEINRICH,
Die Grafen von Arnstein (Mitteldeutsche Forschungen, 21), Köln / Graz 1961, passim.
 
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