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Schreier, Gero; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]; Albert-Ludwigs-Universität Freiburg [Mitarb.]; Jan Thorbecke Verlag [Mitarb.]
Ritterhelden: Rittertum, Autonomie und Fürstendienst in niederadligen Lebenszeugnissen des 14. bis 16. Jahrhunderts — Mittelalter-Forschungen, Band 58: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.54852#0095

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3. Ritterhelden: der diskursive Rahmen in didaktischen und politischen Traktaten

adliger Agonalität, das Chamys Traktat Livre de chevalerie in der Mitte des
14. Jahrhunderts formuliert und das im Kem auf der Verknüpfung von adliger
Ehre, Waffentaten und einem Ethos der Steigerung beruht, lässt sich in Grund-
zügen ebenso vor Chamy wie nach ihm beobachten. Sowohl schon in der höfi-
schen Literatur des hohen Mittelalters wie in der adligen Biographik des 15. und
16. Jahrhunderts findet sich die Tendenz, über adlige Agonalität im Sinn einer
Exzeptionalität zu sprechen, die um unablässige Bemühung um und Aus-
zeichnungen in kämpferischen Extremsituationen kreist und diese im Rahmen
eines Diskurses um adlige Ehre rhetorisch konkretisiert.
Im Lichte dessen, was wir im vorangegangenen Kapitel ausgeführt haben,
erscheint dies als Fortschreibung und Pointierung einer affirmativen Deu-
tungstradition adliger Gewalt. Diese Deutungstradition, auch das wurde oben
skizziert, blieb in jener Epoche nicht unangefochten. Im Folgenden wird zu
zeigen sein, dass die Frage nach der Einordnung des Adels in die sich verdich-
tenden politischen und ideologischen Strukturen des Spätmittelalters gerade
über eine Problematisierung und Umdeutung der nachgezeichneten heroischen
Tradition verhandelt wurde.
3.3. Kritiken und Umwertungen des heroischen Modells von
Ritterschaft im Frankreich des 14. und 15. Jahrhunderts
3.3.1. Reform der Ritterschaft: ein anti-heroischer Diskurs?
Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts war in Frankreich die Vorstellung einer
fundamentalen Krise verbreitet. Die militärischen Niederlagen von Crecy und
Poitiers waren in diesem Zusammenhang nur Symptome; in den 1350er-Jahren
markieren wirtschaftliche Schwierigkeiten, eine von vielen Seiten als ineffektiv
wahrgenommene königliche Verwaltung bei gleichzeitig erdrückender Steuer-
last, Gefangenschaft oder Regierungsunfähigkeit des Königs, zudem politische
Konflikte innerhalb des Adels, aber auch zwischen den Ständen, schließlich so-
ziale Unruhen wie die Jacquerie von 1358 und der Ausbruch der Pest den Beginn
einer Krisenperiode, die sich bis weit in das 15. Jahrhundert hineinzog.84 Von
manchen Autoren, die in dieser Situation schrieben, wurde die Krise als Phä-
nomen beschrieben, in das alle Gesellschaftsschichten verstrickt waren; das
Tragicum argumentum de miserabili statu regni Francie des Benediktinermönchs
Francois de Montebelluna etwa, das im Jahr 1357 als Reaktion auf die Schlacht
von Poitiers verfasst wurde, spart in seiner theologisch-moralisch getönten Ge-
neralkritik keinen der Stände aus - die Ritter seien feige, das Volk sittenlos, der
Klerus verweltlicht -, und in ähnlicher Weise lässt Alain Chartier in seinem

84 VgL z.B. Demurger, Temps des crises; Ehlers, Geschichte Frankreichs, S. 206-349; Favier,
Frankreich, S. 282-432. Kürzere Überblicke bei Charbonnier, Society; Paravicini, Krise; Potter,
Introduction, S. 14-21. Zur Krisenwahmehmung in der frühen Phase Hiestand, ,Weh dem
Reich'.
 
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