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HANS WOLFGANG SINGER: DIE WEINBERGSSZENEN USW.

auch schon 29 Jahre alt, was man leicht vergißt über dem kindlichen Charakter,
der den Darstellungen, als biographische Daten betrachtet, immer noch
anhaftet.
Was einem an diesen Zeichnungen so sehr auffällt, ist die für den
späteren Retzsch ungewöhnliche Schlichtheit der Auffassung. Sie sind auch
in unserem heutigen Sinne, nicht etwa bloß in dem der Frau Jameson,
»weder im Gefühl noch im Ausdrucke unecht«. Sodann findet man darin
eine bewunderungswürdige, sonnige Beleuchtung. Man ist versucht, sie un-
mittelbar auf Canaletto zurückzuführen: sie zeigt sich als eine höchst selt-
same Vorahnung unseres Freilichts. Mit solchen Bilderchen, wie Moritz
und Christel in der Haustür, Christel auf den Knieen vor den beiden
Brüdern, Christel an Moritzens Arm auf dem Heimweg mit den beiden
Brüdern, Christel und Moritz werden durch August, als Gespenst ver-
kleidet, erschreckt, Christel als Genesende, Abschied Moritzens von Christel
stellt sich Moritz Retzsch hart neben die Meister aus dem Anfang des
19. Jahrhunderts, die die große Jahrhundertausstellung der Nationalgalerie
wieder in das gebührende Licht gestellt hat, neben Hans Bechmann, Was»-
mann, Waldmüller und solche Künstler. Er entfaltet eine bestrickende
Kunst der Miniaturmalerei mit einwandfreiem Ausgleich zwischen der An®
Wendung seiner Mittel und der Höhe der erstrebten Wirkung. Durchaus
feinfühlig sind die Gesichter im Lichten modelliert. Sowohl der Ausdruck
in den Gesichtern, wie die Gesten verraten eine schöne, tiefe und unaffek®
tierte Empfindung. Die Sorge in Moritzens Antlitz, die Unschuld in jenem
der Christel, die ungewöhnliche und doch so deutlich sprechende Art wie er
ihre Hände faßt auf dem Bild des Paares in der Tür, das alles kann man
sich nicht zarter und echter ausgedrückt denken. Kaum geringer wiederholt
sich das in dem letzten, dem Abschiedsbild. Überhaupt hat der Künstler
uns besonders im Christel den ganzen Menschen — einen entzückend lieb®
reizenden Menschen zumal —, nicht nur äußerliche Abbildungen eines nied®
liehen Mädchens gegeben.
Zu dem Bild 98, das wir auf der Tafel IX wiedergeben, sagen die »Er®
klärungen«: »Hier steht die kleine Cristel M. von Moritz überrascht —- —
Julie Rendvang war von ihm gebeten worden, hinunterzugehen und Cristeln,
die am Wasser zu thun hatte, mit Sprechen aufzuhalten — bis Moritz kam!
ich und die Schwester lauschen hinter dem Laden des Erkerstübchens vorn«.
Damit schließen leider die »Erklärungen« ab. Wegen der noch hübscheren
folgenden Darstellungen sind wir auf uns selbst angewiesen, wenn wir den
Liebesroman, den sie weiterspinnen, gedeutet haben wollen.

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