STUDIEN ÜBER DAS VERHÄLTNIS DER
RENAISSANCE ZUR ANTIKE1)
Mit drei Abbildungen auf einer Tafel Von PAUL GUSTAV HÜBNER
III
DER KNABE MIT DER GANS AUF VLÄMISCHEN BILDERN
Die folgenden Zeilen sollen im wesentlichen als Illustration dafür dienen, wie
bei der Erforschung der Renaissance unbedeutende und anscheinend belang-
lose literarische Notizen die Lücken unseres Monumentenmaterials ausfüllen können
und erwünschte Aufklärungen über die Entstehung eines künstlerischen Motives zu
geben imstande sind.
Auf der Prager Lucasmadonna des Jan Gossaert sieht man links auf der Estrade
die Gruppe eines Knaben mit einer Gans; der Putto hat das rechte Bein wie ein
aufsteigender Reiter über den Rücken des Vogels gelegt, während er mit dem
linken eben noch auf der Erde steht. Der Florschurz welchen er um den Leib
trägt, ist offenbar eine Zutat des Malers, der ihn in heiliger Gesellschaft auftreten
lassen wollte; denn im übrigen ist seine Abstammung von der antiken Plastik un-
verkennbar. Man hat deshalb auch immer auf antike Gruppen hingewiesen, welche
ein Kind mit seiner Gans spielend zeigen2), doch ist sowohl die bekannte Dar-
stellung des mit der entlaufenden Gans ringenden Kindes, an die man wohl zu-
nächst gedacht hat8), wie auch die weniger populäre des sitzenden Knaben der
seinen Vogel an die Erde drückt4) in den Details der Darstellung des Mabuse
durchaus unähnlich. Erst ein vereinzelter Neapler Marmor kommt ihr näher, inso-
fern als er das charakteristische Motiv des Reitens hat5); er könnte auch wohl im
allgemeinen den antiken Typus, welcher zum Vorbild gedient hat, veranschaulichen,
doch kann die künstlerisch minderwertige und schlecht ergänzte Statue schon des-
halb nicht das Vorbild Mabuses gewesen sein, weil sie nachweislich in Herculanum
gefunden ist.
Da gibt eine literarische Notiz den geeigneten Aufschluß. Um das Jahr 1500 ver-
faßte ein Künstler aus dem Kreise Lionardos eine Beschreibung der Antiken Roms
in Terzinen, welche den Titel trägt „Antiquarie prospetiche Romane composte per
prospectivo Melanese depictore", und in der die 31. Terzine folgendermaßen lautet:
„In nel giardin del Cardinal sauello
a cauallo in una ocha ecci un puttino
che mai non vidi el miglor di scarpello"6).
(1) Siehe Jahrgang II, 1909, p. 267 —280.
(2) Zuletzt Ch. Aschenheim, Der italienische Einfluß in der vlämischen Malerei der Frührenaissance
(1910) p. 21.
(3) Die Gruppe des Boethos; Exemplare Reinach Repertoire de la Statuaire I, pag. 534, 1 ; 535, 5; 535, 9.
(4) Z. B. Reinach I, pag. 536, 6; 536, 7; 537, 2.
(5) Clarac, Musee de sculpture V, pl. 876 no. 2228; danach Abb. 1. Ergänzt sind am Knaben Kopf,
Arme, Beine zum Teil; am Vogel Kopf und Rücken. Jetzt offenbar im Magazin, da im Katalog 1908
nicht aufgeführt.
(6) Das Gedicht, welches in einer seltenen Inkunabel vorliegt, ist vollständig abgedruckt und kommentiert
von Govi in den Atti della R. Acc. dei Lincei Serie II, vol. 3, 3 (1876), p. 47—66. Die große Ver-
breitung der Schrift geht z. B. daraus hervor, daß sie in dem bekannten Schedelschen Bande cod.
lat. 716 der Münchener Hof- und Staatsbibliothek kopiert ist (Fol. 68v — 74r).
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RENAISSANCE ZUR ANTIKE1)
Mit drei Abbildungen auf einer Tafel Von PAUL GUSTAV HÜBNER
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DER KNABE MIT DER GANS AUF VLÄMISCHEN BILDERN
Die folgenden Zeilen sollen im wesentlichen als Illustration dafür dienen, wie
bei der Erforschung der Renaissance unbedeutende und anscheinend belang-
lose literarische Notizen die Lücken unseres Monumentenmaterials ausfüllen können
und erwünschte Aufklärungen über die Entstehung eines künstlerischen Motives zu
geben imstande sind.
Auf der Prager Lucasmadonna des Jan Gossaert sieht man links auf der Estrade
die Gruppe eines Knaben mit einer Gans; der Putto hat das rechte Bein wie ein
aufsteigender Reiter über den Rücken des Vogels gelegt, während er mit dem
linken eben noch auf der Erde steht. Der Florschurz welchen er um den Leib
trägt, ist offenbar eine Zutat des Malers, der ihn in heiliger Gesellschaft auftreten
lassen wollte; denn im übrigen ist seine Abstammung von der antiken Plastik un-
verkennbar. Man hat deshalb auch immer auf antike Gruppen hingewiesen, welche
ein Kind mit seiner Gans spielend zeigen2), doch ist sowohl die bekannte Dar-
stellung des mit der entlaufenden Gans ringenden Kindes, an die man wohl zu-
nächst gedacht hat8), wie auch die weniger populäre des sitzenden Knaben der
seinen Vogel an die Erde drückt4) in den Details der Darstellung des Mabuse
durchaus unähnlich. Erst ein vereinzelter Neapler Marmor kommt ihr näher, inso-
fern als er das charakteristische Motiv des Reitens hat5); er könnte auch wohl im
allgemeinen den antiken Typus, welcher zum Vorbild gedient hat, veranschaulichen,
doch kann die künstlerisch minderwertige und schlecht ergänzte Statue schon des-
halb nicht das Vorbild Mabuses gewesen sein, weil sie nachweislich in Herculanum
gefunden ist.
Da gibt eine literarische Notiz den geeigneten Aufschluß. Um das Jahr 1500 ver-
faßte ein Künstler aus dem Kreise Lionardos eine Beschreibung der Antiken Roms
in Terzinen, welche den Titel trägt „Antiquarie prospetiche Romane composte per
prospectivo Melanese depictore", und in der die 31. Terzine folgendermaßen lautet:
„In nel giardin del Cardinal sauello
a cauallo in una ocha ecci un puttino
che mai non vidi el miglor di scarpello"6).
(1) Siehe Jahrgang II, 1909, p. 267 —280.
(2) Zuletzt Ch. Aschenheim, Der italienische Einfluß in der vlämischen Malerei der Frührenaissance
(1910) p. 21.
(3) Die Gruppe des Boethos; Exemplare Reinach Repertoire de la Statuaire I, pag. 534, 1 ; 535, 5; 535, 9.
(4) Z. B. Reinach I, pag. 536, 6; 536, 7; 537, 2.
(5) Clarac, Musee de sculpture V, pl. 876 no. 2228; danach Abb. 1. Ergänzt sind am Knaben Kopf,
Arme, Beine zum Teil; am Vogel Kopf und Rücken. Jetzt offenbar im Magazin, da im Katalog 1908
nicht aufgeführt.
(6) Das Gedicht, welches in einer seltenen Inkunabel vorliegt, ist vollständig abgedruckt und kommentiert
von Govi in den Atti della R. Acc. dei Lincei Serie II, vol. 3, 3 (1876), p. 47—66. Die große Ver-
breitung der Schrift geht z. B. daraus hervor, daß sie in dem bekannten Schedelschen Bande cod.
lat. 716 der Münchener Hof- und Staatsbibliothek kopiert ist (Fol. 68v — 74r).
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