Frage, ob dem Niclaus von Leiden der Name Ger-
haert mit Recht zugeteilt wird, ist problematisch;
denn in die schwer leserliche Inschrift des dem
Vertrage über das Straßburger Kanzleiportal ange-
hängten Siegels wird der Name Gerhaert gerade
mit Hilfe des Circulus vitiosus über jenen Peter
Gerhaert hineininterpretiert.
Beschreibung und Analyse der einzelnen Bild-
werke sind gut. Hingegen fehlt eine geschlossene
Darstellung der Entwicklung des Bildhauers auf
Grund der Betrachtung der Werke. Des weiteren
mangelt eine klare Herausarbeitung der Schule des
Meisters. Eine Anzahl von Arbeiten wird mit ihm in
Verbindung gebracht. Wir erfahren gelegentlich,
daß der Kruzifixus in Baden-Baden wiederholt nach-
gebildet wird, und zwar in Maulbronn, 1473, Lauten-
bach, Colmar, Offenburg 1521, lernen als Schulwerke
die Konstanzer Münsterkanzel des Hans Hammer,
1486, die Bildwerke im nördlichen Münsterquerschiff,
den Tod Mariä von 1480 und den Ölberg des
Nikolaus Roeder von 1501 kennen, von dem sich
in Offenburg eine Nachbildung findet, ferner eine
Madonna in Lautenbach, endlich die Arbeiten
des Veit Wagner; in St. Stephan in Wien ver-
raten der Fuß der Orgelbühne, die Kanzel und
einige Epitaphien seinen Einfluß. Diese wenigen
Andeutungen des Verfassers vermögen indes noch
keine Vorstellung davon zu geben, wie sich der
herbe, kantige Stil des Meisters und seiner Schule
gegen die mannigfaltige, doch in allen Äußerungen
von der seinigen abweichende Kunstweise seiner
Umgebung am Oberrhein und in Österreich abgrenzt.
— Die dem Buche beigegebenen 20 Lichtdrucktafeln
lassen nichts zu wünschen übrig. Julius Baum.
HERMANN THIERSCH, An den Rän-
dern des römischen Reiches. Sechs
Vorträge über antike Kultur. München
(O. Beck), 1911. Gebunden M. 3.—.
Desinunt ista non pereunt: Mit diesen Worten
schließt ein Buch, das weit und tief gewirkt hat,
wie nur ganz wenige philologische Bücher unserer
Zeit: Erwin Rohdes Psyche; es ist damit eine Wahr-
heit ausgesprochen, die keine Verschiedenheit der
Meinungen und kein Toben neuerungssüchtiger
Umstürzler uns rauben kann, die Tatsache näm-
lich, daß noch heute das Altertum lebendig und
wirkend ist. Es ist das Gesetz der historischen
Kontinuität, dessen Geltungsbereich, Wesen und
Wirkung zu erweisen, heute viele Hände tätig
sind. Unter den Archäologen hat es in energischer
und konsequenter Weise durchgeführt Hermann
Thiersch in seinem Werke Pharos, Antike, Islam
und Occident (Leipzig, 1909). Auch sein neues
Büchlein: „An den Rändern des römischen Reiches"
stellt sich in den Dienst dieses Gedankens. „Nur
scheinbar liegen die vielfach vergessenen und ver-
lorenen Dinge des Altertums fernab von unserer
Gegenwart. In Wirklichkeit reicht, wenn auch
nicht vielen erkennbar, eine innerlich durchgehende
Verbindung herüber vom Einst zum Jetzt". Es
sind sechs Vorträge, gehalten in Karlsruhe in jenen
von der Großherzogin von Baden eingerichteten
Kursen, durch die der Frauenwelt geistige Anre-
gung und die Gelegenheit zur Vertiefung des all-
gemeinen Wissens geboten werden soll. Es sind
aber nicht angenehme Causerien und nicht popu-
läre Archäologie, wie sie vielfach dargeboten wird,
vor der man nur energisch warnen kann. Heute
ist die Wissenschaft des Spatens in so lebhafter
Entwicklung, daß einerseits die Ausgrabungen
selbst, andrerseits die Verarbeitung ihrer Resultate
in dem Maße die Kräfte jedes in Anspruch nehmen,
daß zur „Popularisation" der Wissenschaft sogut
wie keine Zeit bleibt. Diese liegt daher großen-
teils in der Hand von Männern, die nicht die
nötigen Vorkenntnisse und eigene Erfahrung be-
sitzen. Mit um so größerer Freude begrüße ich
dieses Buch. Es ist von einem wirklichen Archäo-
logen, mehr noch, von einem Manne geschrieben,
der nicht gelehrter Antiquar ist, sondern eine
lebendige Beziehung zur Kunst besitzt. Den tie-
feren Zusammenhang von Antike und Moderne
aufzuzeigen, dient ihm die Zeit des Imperiun
Romanum, jene Zeit, die zugleich die Gesamtbilanz
der Antike zieht, indem sie die Kulturen aller
Mittelmeervölker in sich vereinigt, und die Grund-
lage abgegeben hat für unsere jetzige, bunte „euro-
päische" Zivilisation. Ihren markantesten Ausdruck
haben jene Kulturen der Mittelmeervölker gefunden
in ihren Zentren : Alexandria für Ägypten (Kapitel 1),
Petra für Arabien (2), Antiochia für Syrien (3),
Ephesos und Pergamon für Kleinasien (4), Karthago
für Nordafrika (5), Trier für die Gebiete der Rhone
und des Rheins (6). Man sieht, jene zwei Zentren
fehlen, an die der Laie, wenn von antiker Kultur
die Rede ist, zunächst denkt: Athen und Rom.
Dafür sind die Randgebiete der alten Welt, die
weiteren Kreisen garnicht oder wenig bekannt zu
sein pflegen, in den Vordergrund der Betrachtung
gerückt. Das Ganze ist in leicht verständlicher,
reizvoller Form vorgetragen, die Anmerkungen am
Schluß begründen abweichende Meinungen des
Verfassers und geben Hinweise auf weitere Literatur.
Wünschen wir, daß viele sich diesem Führer an-
vertrauen — wir kennen keinen besseren!
Ths. Otto Achelis.
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haert mit Recht zugeteilt wird, ist problematisch;
denn in die schwer leserliche Inschrift des dem
Vertrage über das Straßburger Kanzleiportal ange-
hängten Siegels wird der Name Gerhaert gerade
mit Hilfe des Circulus vitiosus über jenen Peter
Gerhaert hineininterpretiert.
Beschreibung und Analyse der einzelnen Bild-
werke sind gut. Hingegen fehlt eine geschlossene
Darstellung der Entwicklung des Bildhauers auf
Grund der Betrachtung der Werke. Des weiteren
mangelt eine klare Herausarbeitung der Schule des
Meisters. Eine Anzahl von Arbeiten wird mit ihm in
Verbindung gebracht. Wir erfahren gelegentlich,
daß der Kruzifixus in Baden-Baden wiederholt nach-
gebildet wird, und zwar in Maulbronn, 1473, Lauten-
bach, Colmar, Offenburg 1521, lernen als Schulwerke
die Konstanzer Münsterkanzel des Hans Hammer,
1486, die Bildwerke im nördlichen Münsterquerschiff,
den Tod Mariä von 1480 und den Ölberg des
Nikolaus Roeder von 1501 kennen, von dem sich
in Offenburg eine Nachbildung findet, ferner eine
Madonna in Lautenbach, endlich die Arbeiten
des Veit Wagner; in St. Stephan in Wien ver-
raten der Fuß der Orgelbühne, die Kanzel und
einige Epitaphien seinen Einfluß. Diese wenigen
Andeutungen des Verfassers vermögen indes noch
keine Vorstellung davon zu geben, wie sich der
herbe, kantige Stil des Meisters und seiner Schule
gegen die mannigfaltige, doch in allen Äußerungen
von der seinigen abweichende Kunstweise seiner
Umgebung am Oberrhein und in Österreich abgrenzt.
— Die dem Buche beigegebenen 20 Lichtdrucktafeln
lassen nichts zu wünschen übrig. Julius Baum.
HERMANN THIERSCH, An den Rän-
dern des römischen Reiches. Sechs
Vorträge über antike Kultur. München
(O. Beck), 1911. Gebunden M. 3.—.
Desinunt ista non pereunt: Mit diesen Worten
schließt ein Buch, das weit und tief gewirkt hat,
wie nur ganz wenige philologische Bücher unserer
Zeit: Erwin Rohdes Psyche; es ist damit eine Wahr-
heit ausgesprochen, die keine Verschiedenheit der
Meinungen und kein Toben neuerungssüchtiger
Umstürzler uns rauben kann, die Tatsache näm-
lich, daß noch heute das Altertum lebendig und
wirkend ist. Es ist das Gesetz der historischen
Kontinuität, dessen Geltungsbereich, Wesen und
Wirkung zu erweisen, heute viele Hände tätig
sind. Unter den Archäologen hat es in energischer
und konsequenter Weise durchgeführt Hermann
Thiersch in seinem Werke Pharos, Antike, Islam
und Occident (Leipzig, 1909). Auch sein neues
Büchlein: „An den Rändern des römischen Reiches"
stellt sich in den Dienst dieses Gedankens. „Nur
scheinbar liegen die vielfach vergessenen und ver-
lorenen Dinge des Altertums fernab von unserer
Gegenwart. In Wirklichkeit reicht, wenn auch
nicht vielen erkennbar, eine innerlich durchgehende
Verbindung herüber vom Einst zum Jetzt". Es
sind sechs Vorträge, gehalten in Karlsruhe in jenen
von der Großherzogin von Baden eingerichteten
Kursen, durch die der Frauenwelt geistige Anre-
gung und die Gelegenheit zur Vertiefung des all-
gemeinen Wissens geboten werden soll. Es sind
aber nicht angenehme Causerien und nicht popu-
läre Archäologie, wie sie vielfach dargeboten wird,
vor der man nur energisch warnen kann. Heute
ist die Wissenschaft des Spatens in so lebhafter
Entwicklung, daß einerseits die Ausgrabungen
selbst, andrerseits die Verarbeitung ihrer Resultate
in dem Maße die Kräfte jedes in Anspruch nehmen,
daß zur „Popularisation" der Wissenschaft sogut
wie keine Zeit bleibt. Diese liegt daher großen-
teils in der Hand von Männern, die nicht die
nötigen Vorkenntnisse und eigene Erfahrung be-
sitzen. Mit um so größerer Freude begrüße ich
dieses Buch. Es ist von einem wirklichen Archäo-
logen, mehr noch, von einem Manne geschrieben,
der nicht gelehrter Antiquar ist, sondern eine
lebendige Beziehung zur Kunst besitzt. Den tie-
feren Zusammenhang von Antike und Moderne
aufzuzeigen, dient ihm die Zeit des Imperiun
Romanum, jene Zeit, die zugleich die Gesamtbilanz
der Antike zieht, indem sie die Kulturen aller
Mittelmeervölker in sich vereinigt, und die Grund-
lage abgegeben hat für unsere jetzige, bunte „euro-
päische" Zivilisation. Ihren markantesten Ausdruck
haben jene Kulturen der Mittelmeervölker gefunden
in ihren Zentren : Alexandria für Ägypten (Kapitel 1),
Petra für Arabien (2), Antiochia für Syrien (3),
Ephesos und Pergamon für Kleinasien (4), Karthago
für Nordafrika (5), Trier für die Gebiete der Rhone
und des Rheins (6). Man sieht, jene zwei Zentren
fehlen, an die der Laie, wenn von antiker Kultur
die Rede ist, zunächst denkt: Athen und Rom.
Dafür sind die Randgebiete der alten Welt, die
weiteren Kreisen garnicht oder wenig bekannt zu
sein pflegen, in den Vordergrund der Betrachtung
gerückt. Das Ganze ist in leicht verständlicher,
reizvoller Form vorgetragen, die Anmerkungen am
Schluß begründen abweichende Meinungen des
Verfassers und geben Hinweise auf weitere Literatur.
Wünschen wir, daß viele sich diesem Führer an-
vertrauen — wir kennen keinen besseren!
Ths. Otto Achelis.
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