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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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Schriften Laugiers zeigt, welche Männer wie Percier
und Fontaine Aussprüche tun läßt, die unsere mo-
dernen Sachlichkeits- und Zweckmäßigkeitsrufer
wiederholen könnten, während ihre Formlust
gleichsam in dem Eiskristall der Antike einge-
schlossen blieb und sie das Unsachlichste schufen
— ein Beweis der Echtheit klassizistischer Form-
energie —, diese Kultur der Reflexion ist nicht
scharf genug jener tiefen Moralität gegenüberge-
stellt, die das philosophische und künstlerische
Deutschland beherrscht, die auch wieder und
wieder in den Gedankengängen eines Schinkels
erscheint. Das wäre aber zumindest von einer
architektonischen Untersuchung zu verlangen, die
den Begriff Kultur in ihre Kreise zieht. Eine
solche Gegenüberstellung würde ganz tiefe Blicke
in die Gesinnung des Klassizismus tun lassen.
Und Schinkel sagt ja: „Alles beim Kunstwerk
liegt darin, daß die Natur mit einer bestimmten
Gesinnung gesehen werde", worin wir die weit
frühere deutsche Färbung des oft zitierten Zola-
schen Ausspruches hätten, der Temperament an
Stelle von Gesinnung setzt. Gegen Schluß gelingt
es allerdings dem Verfasser — und hier möchte
seine Eigenschaft als praktisch erzogener Archi-
tekt ihm die gedankliche Analyse erleichtern —,
eine andere fundamentale Beobachtung rein zu
entwickeln: die Trennung zwischen Bautechnik
und Bauästhetik, wie sie sich in jener Zeit voll-
zieht, die aber doch auch wieder jene Zeit in
ersten Anläufen überwindet.
Der Verfasser nimmt zu Schützern seines Buches
das architektonische Doppelgestirn Palladio und
Schinkel. Ein guter Titel, und es soll ihm nicht
allzuscharf angerechnet werden, daß Palladio nicht
einmal persönlich auftritt, sondern nur die um
Palladio, während dagegen die um Schinkel kaum
genannt sind. Es mag das aber für uns die Zi-
tierung eines Schinkelschen Ausspruches recht-
fertigen, der ein künstlerisches Glaubensbekennt-
nis des Klassizismus genannt werden kann: „Das
Kunstwerk soll für die, welche in feinem Gefühl
erzogen sind, tiefe und solche Empfindungen oder
vielmehr Stimmungen erzeugen, welche Grund-
lagen sind zu höheren moralischen Tendenzen,
die auf moralische Standpunkte führen, von denen
aus eigene moralische Äußerungen möglich werden.
Zugleich liegt aber auch im Kunstwerk der rechten
Art die Kraft, in uns zu bewirken, daß wir uns
jener Stimmungen bewußt werden können und
dann um so höheren Genuß haben".
A. E. Brinckmann.

WILHELM WORRINGER, Formpro-
bleme der Gotik. München (Piper) 191I.
Die Grundidee, auf der Worringers Theorie be-
ruht, nämlich die Idee von dem inneren Zusammen-
hang zwischen den einzelnen Kulturerscheinungen:
Kunst, Wissenschaft und Weltanschauung, erhält
durch Worringers Buch selbst eine Stütze. Wie
die Weltanschauung unserer Zeit von einem ober-
flächlichen Materialismus hinweg in die Tiefe
dringt, wie sie einer Kultur der Seele zustrebt, so
geht auch die Kunstwissenschaft immer weiter
hinaus über das trockene Registrieren historischer
Tatsachen, über die materialistische Erklärung der
Kunsterscheinungen durch das Milieu oder durch
Material und Technik, so strebt auch sie darnach,
hinter den äußeren Formen der Kunst die leben-
dige Seele zu erkennen. Dafür ist dieses Buch
ein charakteristisches und schönes Beispiel.
Der Verfasser gibt hier eine Erweiterung und
Vertiefung jener Ideen, die er vor einigen Jahren
in seinem Buche „Abstraktion und Einfühlung"
dargelegt hat1). Er geht von der wichtigsten Er-
kenntnis der neueren Kunstwissenschaft aus, daß
die Unterschiede in den Stilen der einzelnen Zeiten
und Völker nicht in einem größeren oder geringeren
Können begründet sind, sondern in einem anders
gearteten Wollen, und daß das Ziel dieses Wollens
nicht zu allen Zeiten die Wiedergabe der Natur
gewesen ist. Der tiefere Grund für diese Unter-
schiede im Kunstwollen liegt aber nicht in den
äußeren Zufallserscheinungen des Milieus oder des
Materials, sondern in der geistigen und seelischen
Beschaffenheit der Menschen, in ihrem Verhältnis
zur Umwelt und zum Überweltlichen. So faßt
Worringer die Kunstwissenschaft als „Menschheits-
psychologie" auf, also als eine Wissenschaft, die
in gleicher Weise der Erkenntnis der Kunst wie
der der Seele dient.
Die Beziehungen zwischen Kunst und Weltan-
schauung stellt W. zunächst an drei Haupttypen
dar, dem primitiven, dem klassischen und dem
orientalischen Menschen. Das Verhältnis des primi-
tiven Menschen zur Umwelt ist dualistisch, Mensch
und Welt stehen einander fremd, ja feindlich
gegenüber. So sucht der Mensch sich aus dem
Chaos, das die Welt für ihn bedeutet, in ein Reich
absoluter Werte zu retten, und das bietet ihm die
Religion in der Vorstellung von jenseitigen höheren
Gewalten und die Kunst in Gebilden, die, einer
geometrischen Notwendigkeit folgend, allem Leben-
digen, Natürlichen enthoben sind. Dem klassischen
(1) Das Buch erscheint soeben in dritter Auflage, vermehrt
um einen sehr schönen Nachtrag, der die Grundideen von
Worringers Theorie klar zusammenfaßt.

Monatshefte für Kunstwissenschaft, IV. Jahrg. 1911, Heft 12

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