Menschen ist dieses unverständliche Chaos der
Welt zu einem klaren Kosmos geworden, die Natur
ist ihm vertraut, sich einzufühlen in das Organisch-
Lebendige ist ihm ein glückvolles Erlebnis. So
setzt er auch das Göttliche nicht über die Natur,
sondern in die Natur, so sucht er auch in seiner
Kunst nicht ein Jenseits der Natur, sondern die
Natur selbst, das blühende organische Leben. Der
orientalische Mensch nähert sich wieder dem pri-
mitiven Menschen, auch seine Anschauungsweise
ist dualistisch und transszendent. Aber dennoch
steht er weit über dem Standpunkt des primitiven
Menschen: er ist nicht voll Furcht aus Mangel an
Erkenntnis, sondern voll Unterwerfung aus Ein-
sicht in die Nichtigkeit aller Erkenntnis. So gleicht
auch die Kunst des orientalischen der des primi-
tiven Menschen in ihrem Streben nach Abstraktion,
übertrifft sie aber weit an Reife der Formbildung
und Erhabenheit des Ausdrucks.
Wie ist nun, unter solchen Gesichtspunkten be-
trachtet, die Gotik aufzufassen, und welcher Art
ist die Weltanschauung, die in der gotischen Kunst
zum Ausdruck kommt? Hier ist von Bedeutung,
daß W. den Begriff der Gotik viel weiter faßt, als
es bisher geschehen ist. Schon lange vor dem
Auftreten der eigentlichen Gotik enthält die nor-
dische Kunst Elemente, die einen gotischen Form-
willen verraten. Eine „geheime Gotik" zeigt sich
schon in der altgermanischen Ornamentik. Diese
ist, wie jede primitive Ornamentik, geometrischer
Art, aber eine gewaltige seelische Unruhe treibt
sie zu einer über alle organische Harmonie hinaus-
gehenden Bewegtheit. So läßt schon die altger-
manische Ornamentik den seelischen Zustand des
gotischen Menschen erkennen: er ist, wie der
primitive Mensch, voll Sehnsucht nach Erlösung,
nach Abstraktion, aber hier kommt diese Sehn-
sucht mit einer ungeheuren, rauschartigen Leiden-
schaft zum Ausdruck. Noch deutlicher offenbart
sich dieser Geisteszustand in der reinen Gotik,
besonders in ihrer Architektur. Der ganze Gegen-
satz zur Klassik zeigt sich hier in der Behandlung
des Materials: die griechische Architektur schafft
ihre Formen durch Bejahung der im Stein wir-
kenden natürlichen Kräfte, die gotische Architektur
verneint diese Kräfte, weil sie darnach strebt, das
Organische zu überwinden, die Materie zu ent-
materialisieren. Mit dieser Entmaterialisierung des
Steins und mit einem gewaltigen Aufwand an kon-
struktiver Energie sucht die Gotik das Bedürfnis
nach Erlösung, nach unbegrenzter Gefühlssteigerung
zu befriedigen.
Wir sehen, wieviel tiefer diese psychologische
Erklärung in das Wesen der einzelnen Stilformen
562
und der Kunst eindringt als jene älteren materia-
listischen Erklärungen. Ich kann hier nicht auf
die feine Analyse eingehen, die W. nach dieser
Methode von der Gotik im Einzelnen und von
ihrer Entwicklung gibt. Er zeigt, wie diese Ent-
wicklung zunächst in einer Auseinandersetzung
mit der Klassik bestand und wie die Gotik auch
wieder — in der Renaissance — von der Klassik
überwunden wurde. Besonders wertvoll ist der
Nachweis, wie das Übermaß der gotischen Kon-
struktion und das Übermaß der gotischen Bewegt-
heit ihre Parallelerscheinungen in der Scholastik
und Mystik finden.
Es sei mir gestattet, noch einige allgemeine
Einwände zu machen. Da diese Methode von
den allgemeinsten Grundlagen des menschlichen
Geistes, von dem Verhältnis zur Umwelt und zum
Überweltlichen ausgeht, wird sie auch zunächst
nur die allgemeinsten Unterschiede der einzelnen
Kunstepochen erklären können. Es bleibt die
Frage, wieweit es mit Hilfe dieser Methode mög-
lich wäre, auch einzelne Erscheinungen der Kunst,
z. B. die Gotik des norddeutschen Backsteinbaues,
vor allem aber die verschiedenen Werke in Plastik
und Malerei zu erklären. Die allgemeinen Ge-
sichtspunkte dieses Buches dürfen uns nicht hin-
dern, immer mehr die Erkenntnis zu begründen,
daß auch im Mittelalter jeder Künstler, ja jedes
einzelne Kunstwerk eine individuelle Erscheinung
ist und schließlich als solche erfaßt werden muß.
Das führt auf den zweiten Einwand: auch diese
Methode bleibt immer noch in einer gewissen
Entfernung von dem einzelnen Kunstwerk. Sie
müßte ihre Ergänzung erhalten durch eine Me-
thode, die nicht deduktiv von den allgemeinen An-
schauungen der Menschheit, sondern induktiv von
den positiven Tatsachen des einzelnen Werkes
ausgehend der Erkenntnis der Werke wie der
Kunst näher kommt. Erst so könnte die Kunst-
wissenschaft auch den Werken moderner Kunst,
zumal neuartigen Erscheinungen, mit einiger
Sicherheit gegenübertreten.
Der große Wert dieses Buches wird aber durch
diese Einwände nicht berührt. Kurt Freyer.
THE DÜRER-SOCIETY, XI Index to the
Plates and Text of Portfolios I — X by
CampbellDodgson andMontaguePeartree:
und, XII Notes and Sketches by Albrecht
Dürer, Selected and edited by Campbell
Dodgson. London, 80, 1911.
Mit diesen zwei Bänden schließen aller Voraus-
sicht nach die Veröffentlichungen der Dürer-Society.
Welt zu einem klaren Kosmos geworden, die Natur
ist ihm vertraut, sich einzufühlen in das Organisch-
Lebendige ist ihm ein glückvolles Erlebnis. So
setzt er auch das Göttliche nicht über die Natur,
sondern in die Natur, so sucht er auch in seiner
Kunst nicht ein Jenseits der Natur, sondern die
Natur selbst, das blühende organische Leben. Der
orientalische Mensch nähert sich wieder dem pri-
mitiven Menschen, auch seine Anschauungsweise
ist dualistisch und transszendent. Aber dennoch
steht er weit über dem Standpunkt des primitiven
Menschen: er ist nicht voll Furcht aus Mangel an
Erkenntnis, sondern voll Unterwerfung aus Ein-
sicht in die Nichtigkeit aller Erkenntnis. So gleicht
auch die Kunst des orientalischen der des primi-
tiven Menschen in ihrem Streben nach Abstraktion,
übertrifft sie aber weit an Reife der Formbildung
und Erhabenheit des Ausdrucks.
Wie ist nun, unter solchen Gesichtspunkten be-
trachtet, die Gotik aufzufassen, und welcher Art
ist die Weltanschauung, die in der gotischen Kunst
zum Ausdruck kommt? Hier ist von Bedeutung,
daß W. den Begriff der Gotik viel weiter faßt, als
es bisher geschehen ist. Schon lange vor dem
Auftreten der eigentlichen Gotik enthält die nor-
dische Kunst Elemente, die einen gotischen Form-
willen verraten. Eine „geheime Gotik" zeigt sich
schon in der altgermanischen Ornamentik. Diese
ist, wie jede primitive Ornamentik, geometrischer
Art, aber eine gewaltige seelische Unruhe treibt
sie zu einer über alle organische Harmonie hinaus-
gehenden Bewegtheit. So läßt schon die altger-
manische Ornamentik den seelischen Zustand des
gotischen Menschen erkennen: er ist, wie der
primitive Mensch, voll Sehnsucht nach Erlösung,
nach Abstraktion, aber hier kommt diese Sehn-
sucht mit einer ungeheuren, rauschartigen Leiden-
schaft zum Ausdruck. Noch deutlicher offenbart
sich dieser Geisteszustand in der reinen Gotik,
besonders in ihrer Architektur. Der ganze Gegen-
satz zur Klassik zeigt sich hier in der Behandlung
des Materials: die griechische Architektur schafft
ihre Formen durch Bejahung der im Stein wir-
kenden natürlichen Kräfte, die gotische Architektur
verneint diese Kräfte, weil sie darnach strebt, das
Organische zu überwinden, die Materie zu ent-
materialisieren. Mit dieser Entmaterialisierung des
Steins und mit einem gewaltigen Aufwand an kon-
struktiver Energie sucht die Gotik das Bedürfnis
nach Erlösung, nach unbegrenzter Gefühlssteigerung
zu befriedigen.
Wir sehen, wieviel tiefer diese psychologische
Erklärung in das Wesen der einzelnen Stilformen
562
und der Kunst eindringt als jene älteren materia-
listischen Erklärungen. Ich kann hier nicht auf
die feine Analyse eingehen, die W. nach dieser
Methode von der Gotik im Einzelnen und von
ihrer Entwicklung gibt. Er zeigt, wie diese Ent-
wicklung zunächst in einer Auseinandersetzung
mit der Klassik bestand und wie die Gotik auch
wieder — in der Renaissance — von der Klassik
überwunden wurde. Besonders wertvoll ist der
Nachweis, wie das Übermaß der gotischen Kon-
struktion und das Übermaß der gotischen Bewegt-
heit ihre Parallelerscheinungen in der Scholastik
und Mystik finden.
Es sei mir gestattet, noch einige allgemeine
Einwände zu machen. Da diese Methode von
den allgemeinsten Grundlagen des menschlichen
Geistes, von dem Verhältnis zur Umwelt und zum
Überweltlichen ausgeht, wird sie auch zunächst
nur die allgemeinsten Unterschiede der einzelnen
Kunstepochen erklären können. Es bleibt die
Frage, wieweit es mit Hilfe dieser Methode mög-
lich wäre, auch einzelne Erscheinungen der Kunst,
z. B. die Gotik des norddeutschen Backsteinbaues,
vor allem aber die verschiedenen Werke in Plastik
und Malerei zu erklären. Die allgemeinen Ge-
sichtspunkte dieses Buches dürfen uns nicht hin-
dern, immer mehr die Erkenntnis zu begründen,
daß auch im Mittelalter jeder Künstler, ja jedes
einzelne Kunstwerk eine individuelle Erscheinung
ist und schließlich als solche erfaßt werden muß.
Das führt auf den zweiten Einwand: auch diese
Methode bleibt immer noch in einer gewissen
Entfernung von dem einzelnen Kunstwerk. Sie
müßte ihre Ergänzung erhalten durch eine Me-
thode, die nicht deduktiv von den allgemeinen An-
schauungen der Menschheit, sondern induktiv von
den positiven Tatsachen des einzelnen Werkes
ausgehend der Erkenntnis der Werke wie der
Kunst näher kommt. Erst so könnte die Kunst-
wissenschaft auch den Werken moderner Kunst,
zumal neuartigen Erscheinungen, mit einiger
Sicherheit gegenübertreten.
Der große Wert dieses Buches wird aber durch
diese Einwände nicht berührt. Kurt Freyer.
THE DÜRER-SOCIETY, XI Index to the
Plates and Text of Portfolios I — X by
CampbellDodgson andMontaguePeartree:
und, XII Notes and Sketches by Albrecht
Dürer, Selected and edited by Campbell
Dodgson. London, 80, 1911.
Mit diesen zwei Bänden schließen aller Voraus-
sicht nach die Veröffentlichungen der Dürer-Society.