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Das Problem des Nachlebens der Antike

will die menschliche Eudaimonie wo nicht
als wirklich so doch als möglich erweisen
und sie herbeiführen. Für Platon ist jede
empirische Erscheinung ein raxpaSeLypia:
aber nicht Warnung, sondern Aufruf —
Aufruf, den Blick zur Idee zu wenden,
deren Abbild sie ist — also nicht er-
schreckendes, sondern ermunterndes und
verheißendes Symbol, Erinnerung einer
einst geschauten und wieder schaubaren
transzendenten Schönheit, Manifestation
des Göttlichen, das die Norm vorstellt; nie
aber kann die empirische Wirklichkeit
selbst Norm und Muster des Tuns werden,
immer nur Bild des Musters sein: Musterbild.
Für die Klassik also ist das Paradigma
Warnung oder Erinnerung und Verhei-
ßung, niemals Vollendung. Im scharfen
Gegensatz dazu wird für den Klassizismus
das empirische Musterbild zum Muster
selbst. „Klassisch“ ist also erst ein typisch
klassizistischer Begriff.
Dies wird in der Vortragsreihe selbst
mittelbar bestätigt durch Stroux’ Dar-
stellung der „Anschauungen vom Klas-
sischen im Altertum“ „Bei den Griechen
der natürliche Vorgang, daß der Autor durch
das Urteil der Nachwelt zu den Klassikern
erhoben und dann an ihn und seine Kunst
die Theorie angelehnt wird, hier (bei
Cicero) die für einen abhängigen Klassizis-
mus charakteristische Erscheinung, daß der
Klassiker selbst sein eigener Theoretiker
ist, ja, daß manche Werke von Anbeginn
an bewußt nach Theorie und Muster so ge-
staltet werden, daß sie sich die Anerken-
nung als klassisch gleichsam erzwingen
können.“ Die Kriterien für „beste“ Werke,
die Kriterien der Harmonie, Symmetrie,
Emmetrie, der öpFoTTjc der Gattungen des
Tcp^TüOV, die sich von Platon und Aristo-
teles herschreiben und in ihrer Verbindung
mit dem der heroischen Größe (rapi v<|»ov<;)
in der gesamten europäischen Kunsttheorie
nachwirken — diese Kriterien wachsen,
soviel sich St.s Darstellung entnehmen
läßt, mit dem Wort „classicus“ (etwas
„von Rang“, etwas das „Klasse hat“,
vgl. Zensor und Musterung der Masses) in
der Antike noch nicht zu einem Begriff
zusammen.

Tatsächlich hat der „Neuhumanismus"
dieses Buches weniger das Klassische selbst,
als vielmehr ein klassizistisches Verhalten
zum Vorbild. Der von ihm vertretene Begriff
des Klassischen dient innerhalb der Alter-
tumswissenschaft dazu, eine respektvolle
Distanz zu den Alten zu schaffen und eine
historische, allzu nahe Vertraulichkeit mit
ihnen zu vermeiden, und er schärft den
Blick für die im weiteren Sinn pädagogi-
schen, ,,politisch“-ethischen Elemente an-
tiken Lebens, droht aber zugleich den Blick
zu verengen und die wesentliche Bedeutung
der Antike auf das vollendet-,,Klassische“
einzuschränken. Geschähe das aber, dann
wäre das Fortleben der Antike tatsächlich
nur daraus zu verstehen, daß von Zeit zu
Zeit von einem bewußten Bildungsstreben
die klassisch beruhigt ausgewogenen Werke
zum Vorbild erkoren würden. Die eigent-
lich sogenannte italienische und europäi-
sche Renaissance aber z. B. umfaßt, wie
gerade Warburg gezeigt hat, ebensowohl
das Interesse an der pathetisch bewegten
Antike, aus deren Formenschatz eine leiden-
schaftliche Ergriffenheit sich die ihr fehlen-
den Ausdrucksmittel entnimmt. Auch ist es
nicht nur die abgeklärte, „olympische“, son-
dern auch die dämonische und dämonisierte
Antike, die die Neuzeit mit dem Altertum
verbindet und die ununterbrochen weiter-
lebte, ohne daß sie erst „für würdig erach-
tet" wurde, als ideales Vorbild zu dienen.
Klassische Werke haben nicht nur in klassi-
schen und klassizistischen Epochen, und in
solchen Epochen haben nicht nur klassische
Werke nachgewirkt. Nur im Zusammen-
hang mit der Auswahltendenz der nach-
bildenden Epoche ist das Wesen des Klassi-
schen historisch zu verstehen. W. S.
NEWALD, RICHARD, Nachleben der An- 8
tike 1920—1929. Jber. Fortschr. klass.
Altertswiss. 232. 122 S.
Erster Versuch eines Literaturberichts,
ohne Anspruch auf Vollständigkeit, wird
1935 ergänzt durch Nachträge und Be-
handlung der 1930 erschienenen Arbeiten,
so daß der unmittelbare Anschluß an die
hier vorliegende Bibliographie gewonnen
wird. R. N.
 
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