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Schwarzmaier, Hansmartin [Hrsg.]; Krüger, Jürgen [Hrsg.]; Krimm, Konrad [Hrsg.]
Das Mittelalterbild des 19. Jahrhunderts am Oberrhein — Oberrheinische Studien, Band 22: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2004

DOI Artikel:
Michels, Ulrich: Das Mittelalterbild in der Musik des 19. Jahrhunderts am Oberrhein
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https://doi.org/10.11588/diglit.52739#0247
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DAS MITTELALTERBILD IN DER MUSIK

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Begeisterung geschaffen war.. .9 10. Hier wird der Bruch im Gedächtnis der Geschichte deut-
lich: Bach, Händel, Gluck, Haydn, ja sogar noch Mozart lernten selbstverständlich hand-
werklich, was zu lernen war, d.h. auf dem Gebiete der Komposition den Kontrapunkt der
alten Meister, also insbesondere den Palestrinas. Dies floß grundlegend in ihre Werke ein,
symbiotisch verschmolzen mit ihrem eigenen Stil, ihrer eigenen Neuheit. Mit der Ro-
mantik reißt dieses Selbstverständnis des Alten ab. Thibaut weist auf die Lücke hin, wel-
che entstand. Ein Nichtwissen greift um sich. Gültige Muster müssen neu gesucht wer-
den. Der neu in Mode kommende Virtuose sucht solche Muster nicht: er sucht Effekte,
die wohl einer Masse zu imponieren wissen. Für den ernsten Thibaut war das ein Greuel
seiner Gegenwart. Ihm wird damit das ganze Instrumentalwesen als solches suspekt: wo
es geht, würde er es gerne total verbannen, besonders aber in der Kirche. Eine Mozart-
Messe mit ihren herrlichen Pauken und Trompeten findet er opernhaft und abgeschmackt,
denn das klinge ja wie Figaro. Daher seine Predigt für eine neue Reinheit, vom Herzen her,
vom Stil her und bis in die Praxis hinein. So kommt es, daß er die reine Vokalmusik be-
vorzugt und nur Meisterwerke derselben in seinem Singkreis aufführt.
Dabei geht es ihm - es sei hier wiederholt - in erster Linie um die Wirkung in diesem
Singkreis selber, erst sekundär um die Wirkung nach außen (Aufführungen). Thibaut
sucht eben keine äußerlichen Effekte, sondern echte Bildung und Reinheit des Herzens
auch hier. In der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Schrift bekennt er: Wenn ich daher
ernst und kräftig geredet habe, so geschah es nicht, weil ich mich in einem gewissen Sinne
für zunftfähig hielt..., sondern weil meine Seele von einem herrlichen Gegenstände ganz
ergriffen war, und weil ich das Frische und Tüchtige, wie die volle Wahrhaftigkeit, über
Alles liebe, wohlbewußt, daß man durch eine umsichtige Mittelmäßigkeit, und bedacht-
same Verehrung der neuesten Mode insofern überwiegenden Beifall einerndten kann, als
man das Gewicht des Beifalls bloß nach der Kopfzahl der Urtheilenden berechnet™.
Quotendenken also auch damals, nur bei Thibaut im umgekehrten Sinne: er will mög-
lichst wenige ansprechen bzw. um sich scharen, nur die Vorurtheilsfreien und Reinge-
sinnten. Für die Menge aber hat er auch etwas bereit, und nun wird es echt mittelalterlich
bei ihm, denn er empfiehlt der Menge das Volkslied im Weltlichen und das Kirchenlied
bzw. den Choral in der Kirche. Im Gregorianischen Choral begegnet ihm in der Tat Mit-
telalter. Dem Gregorianischen Choral ist das erste Kapitel seiner Schrift gewidmet. Er gibt
ihm durch diese Stellung besonderes Gewicht.
3. Der Choral. Klage über die Mittelmäßigkeit
der Kirchenmusik der Gegenwart. Rückblick auf alte Zeiten:
das lutherische Kirchenlied und den Gregorianischen Choral
Ausgehend vom mehrstimmigen Singen alter Meisterwerke der Vokalmusik in seinem ei-
genen Singkreis und deren wohltuende, Herz und Seele erfrischende Wirkung, kommt
Thibaut beim Anblick der Musikszene seiner Zeit entschieden zu der Forderung, daß zu-

9 Thibaut (wie Anm. 4) S. 3f.
10 Ebd. S. XIII.
 
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