DAS MITTELALTERBILD IN POLITISCHEN ENTWÜRFEN
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und Zukunft nicht gerecht werden können. Offenbar steht der Autor sozusagen als
>Weltkind in der Mittens sucht eine vermittelnde, ausgleichende Position zu beziehen
und für die politische Theorie und die politische Praxis seiner Zeit fruchtbar zu ma-
chen, dies im Einklang mit dem programmatisch verkündeten Ziel des Staatslexikons,
die »richtige Mitte« zwischen zwei entgegengesetzten Extremen zu treffen6. Damit
stellt sich die Frage, wie repräsentativ die von Weicker vertretene Position innerhalb
seines eigenen politischen Lagers ist und wie repräsentativ und wirksam wiederum die
Meinung oder richtiger: das im Staatslexikon vertretene Meinungsspektrum zum
Thema »Mittelalter« in ihrer Zeit gewesen ist - und dies, dem Tagungsthema entspre-
chend, möglichst mit speziellem Bezug auf den »Oberrhein« oder, etwas weiter gefaßt,
auf Südwestdeutschland.
Die Tatsache, daß der Blick einer Gesellschaft auf ihre Vergangenheit von ihrer Gegenwart
maßgeblich mitbestimmt wird, diese Gesellschaft selbst, ihr Denken und Handeln cha-
rakterisiert und zugleich beeinflußt und dadurch wiederum auch auf ihre Zukunft ein-
wirkt - diese Tatsache mag für professionelle Historiker selbstverständlich sein und das
wichtigste Argument für die gesamtgesellschaftliche Bedeutung ihres Berufs und ihrer Ar-
beit bilden; im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit ist solche Einsicht auch heute
noch keineswegs fest verankert aller Historikerstreite ungeachtet, in denen der kompli-
zierte Wechselprozeß zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besonders publi-
zitätsträchtig vorgeführt wird. Daher erscheint es mir durchaus bemerkenswert, wie de-
zidiert Weicker um 1840 die »praktische« Bedeutung der zeitgenössischen Ansichten vom
Mittelalter herausstellt. Erklärbar ist dies eigentlich nur dadurch, daß das »Mittelalter« da-
mals fast so etwas wie ein Stück Zeitgeschichte darstellte und entsprechende Emotionen
und Kontroversen heraufbeschwor.
Weicker deutet auch bereits an, weshalb dies der Fall gewesen ist: Das Mittelalter, so
verschiedenartig und oft verworren es auch erscheinen mochte, bildete damals offensicht-
lich einen hochaktuellen »lieu de memoire« und im Pro und Contra einen wesentlichen
Orientierungspunkt der politischen Theorien seiner Zeit. Das Pro und Contra aber wurde
offensichtlich wiederum bestimmt von den unterschiedlichen, ja konträren Einstellungen
gegenüber der Französischen Revolution: Die Französische Revolution hatte zumindest
nach dem Anspruch ihrer Protagonisten das Ancien Regime und seine bestimmenden
Grundlagen, Herkommen und altes Recht, mit einer bisher unbekannten Radikalität ganz
handfest in Frage gestellt, ja in erheblichen Bereichen zerschlagen und versucht, ein neues
Regime auf zeitlos-vernünftiger Basis zu begründen. Insofern lag es nahe, die Revolution
als eigentlichen Beginn der Neuzeit zu begreifen, der das Mittelalter endgültig hinter sich
ließ, und insofern lag es auch nahe, daß die entschiedenen Gegner der Revolution sich -
aus Interesse und Überzeugung - auf die vorrevolutionäre Vergangenheit, zumindest auf
wesentliche Aspekte ihres Wertesystems zurückbezogen, die Revolutions-Befürworter
hingegen gerade den Durchbruch zu neuen, besseren Ufern feierten. Umstritten waren
nach Weicker besonders aristokratischer Feudalismus und hierarchisch religiöse Einrich-
tungen, also die überkommene Stellung des Adels sowie der Kirche - genauer: der katho-
lischen Kirche - in Staat und Gesellschaft.
6 So Rotteck im Vorwort zur ersten Auflage; RW Bd. 1, S. XXI.
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und Zukunft nicht gerecht werden können. Offenbar steht der Autor sozusagen als
>Weltkind in der Mittens sucht eine vermittelnde, ausgleichende Position zu beziehen
und für die politische Theorie und die politische Praxis seiner Zeit fruchtbar zu ma-
chen, dies im Einklang mit dem programmatisch verkündeten Ziel des Staatslexikons,
die »richtige Mitte« zwischen zwei entgegengesetzten Extremen zu treffen6. Damit
stellt sich die Frage, wie repräsentativ die von Weicker vertretene Position innerhalb
seines eigenen politischen Lagers ist und wie repräsentativ und wirksam wiederum die
Meinung oder richtiger: das im Staatslexikon vertretene Meinungsspektrum zum
Thema »Mittelalter« in ihrer Zeit gewesen ist - und dies, dem Tagungsthema entspre-
chend, möglichst mit speziellem Bezug auf den »Oberrhein« oder, etwas weiter gefaßt,
auf Südwestdeutschland.
Die Tatsache, daß der Blick einer Gesellschaft auf ihre Vergangenheit von ihrer Gegenwart
maßgeblich mitbestimmt wird, diese Gesellschaft selbst, ihr Denken und Handeln cha-
rakterisiert und zugleich beeinflußt und dadurch wiederum auch auf ihre Zukunft ein-
wirkt - diese Tatsache mag für professionelle Historiker selbstverständlich sein und das
wichtigste Argument für die gesamtgesellschaftliche Bedeutung ihres Berufs und ihrer Ar-
beit bilden; im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit ist solche Einsicht auch heute
noch keineswegs fest verankert aller Historikerstreite ungeachtet, in denen der kompli-
zierte Wechselprozeß zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besonders publi-
zitätsträchtig vorgeführt wird. Daher erscheint es mir durchaus bemerkenswert, wie de-
zidiert Weicker um 1840 die »praktische« Bedeutung der zeitgenössischen Ansichten vom
Mittelalter herausstellt. Erklärbar ist dies eigentlich nur dadurch, daß das »Mittelalter« da-
mals fast so etwas wie ein Stück Zeitgeschichte darstellte und entsprechende Emotionen
und Kontroversen heraufbeschwor.
Weicker deutet auch bereits an, weshalb dies der Fall gewesen ist: Das Mittelalter, so
verschiedenartig und oft verworren es auch erscheinen mochte, bildete damals offensicht-
lich einen hochaktuellen »lieu de memoire« und im Pro und Contra einen wesentlichen
Orientierungspunkt der politischen Theorien seiner Zeit. Das Pro und Contra aber wurde
offensichtlich wiederum bestimmt von den unterschiedlichen, ja konträren Einstellungen
gegenüber der Französischen Revolution: Die Französische Revolution hatte zumindest
nach dem Anspruch ihrer Protagonisten das Ancien Regime und seine bestimmenden
Grundlagen, Herkommen und altes Recht, mit einer bisher unbekannten Radikalität ganz
handfest in Frage gestellt, ja in erheblichen Bereichen zerschlagen und versucht, ein neues
Regime auf zeitlos-vernünftiger Basis zu begründen. Insofern lag es nahe, die Revolution
als eigentlichen Beginn der Neuzeit zu begreifen, der das Mittelalter endgültig hinter sich
ließ, und insofern lag es auch nahe, daß die entschiedenen Gegner der Revolution sich -
aus Interesse und Überzeugung - auf die vorrevolutionäre Vergangenheit, zumindest auf
wesentliche Aspekte ihres Wertesystems zurückbezogen, die Revolutions-Befürworter
hingegen gerade den Durchbruch zu neuen, besseren Ufern feierten. Umstritten waren
nach Weicker besonders aristokratischer Feudalismus und hierarchisch religiöse Einrich-
tungen, also die überkommene Stellung des Adels sowie der Kirche - genauer: der katho-
lischen Kirche - in Staat und Gesellschaft.
6 So Rotteck im Vorwort zur ersten Auflage; RW Bd. 1, S. XXI.