IO
Das Altertum
deswillen zu, weil er — als mythologische Figur betrachtet — der „hu-
moris et frigoris deus“ oder „deus pluviarum“ ist, der Herrscher über die
„peuiLiaxa“, mit dem sogar das Meer (als Kpovou baKpuov) in einen gene-
tischen — oder vielleicht genauer aitiologischen — Zusammenhang
gebracht wird. Allein die vielen weiteren Gegensätzlichkeiten, die
innerhalb der astrologischen Saturnvorstellung bestehen, verlangen
nach einer anderen Erklärung — nach einer Erklärung, die nur in der
inneren Struktur der mythologischen Kronosvorstellung als
solcher gesucht werden kann. Und in der Tat: wenngleich auch
die anderen griechischen Gottheiten fast durchweg doppelgestaltig
erscheinen in dem Sinne, daß sie zugleich verderben und segnen,
schaffen und zerstören können, so ist doch vielleicht diese Doppel-
gestaltigkeit bei keiner von ihnen zu einer so grundsätzlichen und
wesenhaften Polarität ausgeprägt, wie bei Kronos. Die Kronosvor-
stellung ist nicht nur dualistisch in bezug auf die Wirkung des Gottes
nach außen, sondern auch in bezug auf sein eigenes, gleichsam per-
sönliches Schicksal, und sie ist es außerdem in solchem Umfang und
in solcher Schärfe, daß man den Kronos geradezu als einen Gott
der Extreme bezeichnen könnte. Auf der einen Seite ist er der
Herrscher des goldenen Zeitalters, in dem die Menschen alles im Über-
fluß hatten und das unschuldige Glück eines Rousseauschen Urzustan-
des genossen — auf der andern ist er der traurig'e, entthronte und ge-
schändete Gott, der einsam im finsteren Tartaros wohnt und geradezu
als Gott des Todes und der Toten gilt; auf der einen Seite erzeugt (und
verschlingt) er unzählige Kinder — auf der andern Seite ist er zu ewi-
ger Unfruchtbarkeit verdammt; auf der einen Seite ist er der Patron
der einfachen und unwissenden Bauern, selbst ein durch plumpe List
zu übertölpelnder Unhold — auf der andern ist er der alte weise Gott,
der TioiKiXößouXoc, der noch als ein Entthronter dem Sohn „die Maße
des ganzen Weltenbaues“ überliefert, und der (scheinbar besonders bei
den Orphikern) als höchste Intellig'enz, als ein Trpopfiöeuc und Ttpo|uavTioc
verehrt wird.1) In dieser immanenten Polarität des Kronosbe-
griffs — die auch für den Begriff des „Saturnus“ zum wenigsten inso-
fern gilt, als das „Säen“ des Kornes zugleich eine Vernichtung und eine
Zeugung', eine „Bestattung“ und eine Wiederauferstehung bedeutet —
findet der besondere Charakter der astrologischen Saturn-Vorstellung
seine letzte Erklärung — jener Charakter, der letzten Endes durch einen
ganz besonders ausgeprägtenund grundsätzlichen Dualismus bestimmt
wird. Freilich, bei Abü Mäfsar und einem ganz späten Autor, wie etwa
i) Nachweise für alle angezogenen Prädikate im II. Anhang.
Das Altertum
deswillen zu, weil er — als mythologische Figur betrachtet — der „hu-
moris et frigoris deus“ oder „deus pluviarum“ ist, der Herrscher über die
„peuiLiaxa“, mit dem sogar das Meer (als Kpovou baKpuov) in einen gene-
tischen — oder vielleicht genauer aitiologischen — Zusammenhang
gebracht wird. Allein die vielen weiteren Gegensätzlichkeiten, die
innerhalb der astrologischen Saturnvorstellung bestehen, verlangen
nach einer anderen Erklärung — nach einer Erklärung, die nur in der
inneren Struktur der mythologischen Kronosvorstellung als
solcher gesucht werden kann. Und in der Tat: wenngleich auch
die anderen griechischen Gottheiten fast durchweg doppelgestaltig
erscheinen in dem Sinne, daß sie zugleich verderben und segnen,
schaffen und zerstören können, so ist doch vielleicht diese Doppel-
gestaltigkeit bei keiner von ihnen zu einer so grundsätzlichen und
wesenhaften Polarität ausgeprägt, wie bei Kronos. Die Kronosvor-
stellung ist nicht nur dualistisch in bezug auf die Wirkung des Gottes
nach außen, sondern auch in bezug auf sein eigenes, gleichsam per-
sönliches Schicksal, und sie ist es außerdem in solchem Umfang und
in solcher Schärfe, daß man den Kronos geradezu als einen Gott
der Extreme bezeichnen könnte. Auf der einen Seite ist er der
Herrscher des goldenen Zeitalters, in dem die Menschen alles im Über-
fluß hatten und das unschuldige Glück eines Rousseauschen Urzustan-
des genossen — auf der andern ist er der traurig'e, entthronte und ge-
schändete Gott, der einsam im finsteren Tartaros wohnt und geradezu
als Gott des Todes und der Toten gilt; auf der einen Seite erzeugt (und
verschlingt) er unzählige Kinder — auf der andern Seite ist er zu ewi-
ger Unfruchtbarkeit verdammt; auf der einen Seite ist er der Patron
der einfachen und unwissenden Bauern, selbst ein durch plumpe List
zu übertölpelnder Unhold — auf der andern ist er der alte weise Gott,
der TioiKiXößouXoc, der noch als ein Entthronter dem Sohn „die Maße
des ganzen Weltenbaues“ überliefert, und der (scheinbar besonders bei
den Orphikern) als höchste Intellig'enz, als ein Trpopfiöeuc und Ttpo|uavTioc
verehrt wird.1) In dieser immanenten Polarität des Kronosbe-
griffs — die auch für den Begriff des „Saturnus“ zum wenigsten inso-
fern gilt, als das „Säen“ des Kornes zugleich eine Vernichtung und eine
Zeugung', eine „Bestattung“ und eine Wiederauferstehung bedeutet —
findet der besondere Charakter der astrologischen Saturn-Vorstellung
seine letzte Erklärung — jener Charakter, der letzten Endes durch einen
ganz besonders ausgeprägtenund grundsätzlichen Dualismus bestimmt
wird. Freilich, bei Abü Mäfsar und einem ganz späten Autor, wie etwa
i) Nachweise für alle angezogenen Prädikate im II. Anhang.