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Panofsky, Erwin; Saxl, Fritz
Dürers "Melencolia I": eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung — Studien der Bibliothek Warburg, Band 2: Teubner, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.31125#0078
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Astrologischc Quellen und Bildtradition 57

starren traurig vor sich hin, das Antlitz trübe in die Hand gestützt.1)
Das Antlitz in die Hand gestützt! Wir haben es hier mit einer uralten
Ausdrucksgeste zu tun, die in ihrer wesentlichsten Bedeutung — als
Geste der Trauer — schon auf ägyptischen Reliefs begegnet. Daneben
aber bedeutet sie auch Miidigkeit — und schöpferisches Denken. Und
in dieser ihrer dreifachen Bedeutung war sie fiir die Darstellung der
saturninisc.hen Melancholie, die Trübsinn, Erschöpfung und Denken in
einem ist, geradezu prädestiniert: wir finden sie, um nur zwei weitere vor-
dürerische Beispiele zu nennen, auf einer Holzschnittillustration in der
deutschen Übersetzung Ficinos, wo der von seiner Arbeit ermüdete und
verstimmte Forscher, ein Alchymist, durch Lautenspiel sich erheitern
läßt (eine merkwürdige Paraphrase der alten Saul- und Daviddarstel-
lungen)2) — sowie in einer Modeneser Handschrift, wo eine Frau, eine
Vorahnung fast der Dürerschen „Melancholie“, mit ähnlich aufgestütz-
tem Kopf am Boden kauert.3) Es ist vielleicht kein Zufall, daß gerade
diese Ausdrucksgeste, die uns auch außerhalb des astrologischen Zu-
sammenhangs in zahllosen Darstellungen von Trauernden und Denken-
den begegnet (es sei hier nur an die ganz stereotype Figur des kla-

1) Der Darstellung der Erfurter Handschrift äußerst vervvandt ist der
Melancholicus eines Ziiricher Einblattdruckes, unsere Abb. 21. Ferner gehören
in diesen Zusammenhang: der Melancholicus einer von uns leider noch nicht iden-
tifizierten Temperamentenfolge, die (in offenbarer Anlehnung an einen bestimmten
Typus von Planetendarstellungen, vgl. Saxl, Verzeichnis, Tafel XX, Abb. 40,
Text p. 114) die einzelnen Gestalten zu Pferde sitzend zeigt und den Melan-
choliker in einen Geldbeutel greifen läßt (unsere Abb. 22), sowie eine Darstel-
lung der Tiibinger Handschrift (Fol. i^ör, Abb. 19), wo der Melancholiker (in
uem gieichen Typus wie sein Patron, der Saturn) als ein mit dem Spaten gra-
bender Mann dargestellt ist, der — listig und mißtrauisch den Beschauer an-
blickend — den Deckel einer großen Geldkiste aufhe'ot; vielleicht, daß er
seinen Schatz vergraben vvill, denn auf dem Spruchband ist zu lesen: „nyemant
getruwen ich“. Noch in K. W. Ramlers „Kurzgefaßter Mythologie“ (5. Aufl.,
1821, p. 360) heißt es bei der Beschreibung der vier Temperamente: ,,Das me-
lancholische Temperament wird als ein bejahrter Mann mit schwermütigen Ge-
bärden gemalt, der clas Haupt auf den Arm stützt, unter welchem ein
Dolch nebst einem Stricke liegt. Neben ihm steht ein Geldkasten, der mit vielen
Schlössern verwahrt ist. Einige lassen Fiedermäuse um ihn herum flattern.“

2) Abb. bei Giehlow, a. a. O. 1903, p. 40, unsere Abb. 23. Es ist durchaus
bezeichnend, daß der Autor dieses Holzschnitts, der das eigentlich Tiefe und Neu-
artige der florentinisch-neoplatonischen Melancholieauffassung offenbar ebenso-
wenig zu erfassen vermochte wie der Übersetzer (der gerade das III. Buch, als zu
schwer verständlich, in Wegfall kommen ließ) just dasjenige Motiv aufgreift,
worin sich die Ausführungen Ficinos durchaus mit der traditionellen und, wie wir
zeigten, völlig popularisierten Anschauung deckten — anstatt einer symbolischen
Darstellung erhabener Schwermut ein genrehaftes Bild alltäglichen Trübsinns uns
vor Augen führend.

3) Bibl. Estense, cod. DCXCVII; über ihn und seinen (von Venturi aller-
dings unrichtig aufgefaßten) Zusammenhang mit den Guarientofresken der Ere-
mitanikirche, vgl. Ad. Venturi in L’Arte XVII, 1914, p. 49ff.
 
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