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Die Quellen der Prodikeischen Herculesfabel

Die individuelle Leistung des Prodikos aber besteht darin (und man
begreift es, daß sie erst im 5. Jahrhundert möglich war), diese drei Motive
zu einer Allegorie auf die menschliche Willensfreiheit vereinigt zu
haben: erst er ist es gewesen, der durch die Einführung der Herculesgestalt
das bloße Gleichnis bzw. das bloße Streitgespräch (aus dem sowohl die dra-
stischen Kampfhandlungen der mittelalterlichen „Psychomachieen“ als
auch die theoretischen Dispute der neuzeitlichen „Paragoni“ hervorgehen
sollten) in eine wirkliche Entscheidungsszene verwandelt hat. Diese
Verwandlung konnte begreiflicherweise zunächst nur dadurch gelingen, daß
er die beiden Personifikationen ihre Reden nicht an einander, sondern eben
an Hercules richten ließ, und daß er ihnen Worte in den Mund legte, durch
die sie sich gleichsam zu Führerinnen auf den „zwei Wegen“ erbieten:
sie mußten als Yjyefrove*; zur „Glückseligkeit“ auf treten, nur daß diese
Glückseligkeit im einen Falle die wahre, im andern eine trügerische ist.
So behauptet denn die Xenophontische Kaxta von sich: tyjv y)8l<7ty]v re
xal pacmjv oSov a£oo ae, von ihrer Gegnerin jedoch: kvvozic,, <b 'HpaxXet,^,
co<; yaX£7rY)v xox (aaxpav o8ov hzl xac, eücppoariSva? 7) yuvY] goi auty) St,7]-
yetTat, x).

Gerade an dieser Stelle hat man nun aber einen verräterischen
Passus entdeckt, der in den übrigens vollkommen einheitlichen und daher
zweifellos als Prodikeisch anzusprechenden Zusammenhang so wenig
hineinpaßt, daß Xenophon ihn unbewußterweise aus einem anderen
Vorstellungskreise übernommen haben muß.* 1 2) Die Entwicklung des
Streitgesprächs war, wie wir sahen, nur unter der Voraussetzung mög-
lich, daß die beiden Frauen sich gemeinsam dem Hercules nahen, vor
seinen Ohren ihre Wechselreden führen und sich im Laufe derselben er-
bieten, auf den von ihnen empfohlenen Wegen als Führerinnen zu dienen.
Plötzlich sagt aber die Tugend: et tyjv Tcpo<; spie o8öv xpaTcoto, d. h. sie
spricht nicht mehr als präsumptive Führerin zu einem in der Ferne liegen-
den Ziel, sondern sie selber ist dieses Ziel — nicht mehr die '0§Y]yY]Tp!,a
auf dem „Wege zum Glück“, sondern der Endpunkt eines „Weges
zur Tugend“.

Dieser Widerspruch erklärt sich, sobald wir die berühmten Verse des
Hesiod heranziehen (Opp. et Dies, v. 287!!):

xal xaT07tTpt,^op.evY]v, tyjv §s ’A&Yjvav Opov/jcnv o5c?av xal Nouv, Ixt, 8’ ’Apsrrjv eXalcp
Xpio[jtEV7]v xal yup.va^opLsv"/]v (vgl. auch Wilamowitz, Nordionische Steine, Abh. d. Berl.
Akad. d. Wiss. Phil.-Hist. Kl., 1909, S. 51 u. 55).

1) Zu religiöser Wirklichkeit wird diese rhetorisch angebotene Führerschaft in
der christlichen Gnosis, wo ein guter und ein böser Engel den Menschen geleiten (Alpers,
S. 65 ff.), und zu ä s t h e t i s c h e r in der bildenden Kunst und namentlich auf dem Theater;
vgl. unten S. 137 ff.

2) Alpers, S. 19 ff.
 
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