Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Prodikos-Fabel als humanistisches Bühnenspiel

85

eher Observanz ließen nicht lange auf sich warten: im Jahre 1497,
also im Erscheinungsjahr des lateinischen Narrenschiffs, bringt der
„Poeta Laureatus“, Historiker und Wunderzeichendeuter Joseph Grün-
peck ein Stück auf die Bühne, das — echt höfisch — nicht mehr Hercules,
sondern Kaiser Maximilian als Schiedsrichter zwischen „Virtus“ und
„Fallacicaptrix“ auftreten läßt1); im Jahre 1510 überträgt Pinicianus,
ein Angehöriger des Locherkreises, die gleiche Schiedsrichterrolle an den
damals zehnjährigen Karl V.2); zwischen 1509 und 1515 führt der als
Plautusphilologe und Freund des Erasmus von Rotterdam bekannt ge-
wordene niederländische Humanist Martinus Dorpiusin einer akade-
mischen Aufführung zu Löwen einen plautinisierenden „Dialogus“ auf,
,,in quo Venus et Cupido omnes adhibent versutias, ut Herculem animi
ancipitem in suam militiam invita Virtute perpellant“.3) Und 1515 spielen
junge Aristokraten ein Hercules-Stück des von Nürnberg nach Wien
übersiedelten Augustiners Benedikt Schwalbe (Chelidonius), das
dem damals schon etwas alltäglich gewordenen Thema insofern eine neue
Wendung zu geben versucht, als Hercules sein Schiedsrichteramt nicht
einfach, wie bei Grünpeck und Pinicianus, an die zu ehrende Fürstlichkeit
abtritt (es ist wiederum Karl V., gespielt von einem jungen Grafen Salm-
Salm), sondern sich diesem gleichsam unterordnen muß: der junge Fürst
sitzt zu Gericht über Venus und Minerva4), und als er von beiden Parteien
„Kronzeugen“ verlangt, erscheint auf Seiten der Venus ein stark bur-
lesker Epikur, auf Seiten der Minerva aber Hercules, der einige seiner
Heldentaten auf offener Bühne wiederholen muß und dadurch den Rich-
ter und die Zuhörerschaft von der Vortrefflichkeit des tugendhaften
Wandels überzeugt; er wird also als ein von vornherein für die „Tugend“
Entschiedener eingeführt, der daher nur als „Testis“, nicht als „Iudex“
auftreten kann.5)

1) Creizenach a. a. O., Bd. I, 35.

2) Creizenach a. a. O., Bd. II, S. 40.

3) Gedruckt zu Löwen, o. J., wahrscheinlich 1514; vgl. Creizenach a. a. O., Bd. II,
S. 52. Die „Voluptas“ hat sich also hier bereits zur mythologischen Figur (Venus) verdichtet,
während die „Virtus“ noch bloße Personifikation bleibt.

4) Diesmal ist also auch die „Virtus“ zur Minerva mythologisiert worden.

5) Benedictus Chelidonius, Voluptatis cum Virtute disceptatio, Wien 1515 (vgl.
Riedl, S. 35); das Stück ist, wie Thon nachgewiesen hat, die recht genau befolgte Vorlage
von Hans Sachsens „Comedia, darin die Göttin Pallas die tugend und die göttin Venus
die Wollust verficht“, die am 3. Februar 1530 aufgeführt wurde (Hans Sachsens Werke
Bd. III, S. 3 ff.). In Jacob Schöppers „Voluptatis ac Virtutis pugna“, Cöln 1546 (5 Akte,
hinter jedem ein Chor), ist das Personal noch weiter bereichert: die „Voluptas“ hat jetzt
außer ihren persönlichen Parteigängern noch ihre „pedissequae“ und ihre „archicancel-
larii“ (in welches Amt sich Epikur mit Apitius teilt), während auf Seiten der „Virtus“ die
Erzengel Raphael und Uriel zu finden sind. Hercules kommt sonderbarerweise in diesem
Stücke nicht vor.
 
Annotationen