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io8

Hercules Prodicius

buten versehene Hercules getreten, so daß die Darstellung des visio-
nären Charakters gänzlich entkleidet ist: das „zweischichtige“ Traum-
erlebnis (unmittelbares Traumobjekt: die beiden Frauengestalten; mittel-
bares Traumobjekt: der zur „Hintergrundslandschaft“ verdichtete Inhalt
ihrer Streitreden) ist zur realen Begegnung geworden. Jetzt steht der
Heros wirklich „am Scheidewege“; und wie sein innerer Zwiespalt, der
Raffaels träumendem Scipio oder Vischers „schlaffend ligendem“ Her-
cules naturgemäß nicht anzumerken war, nunmehr in einer fast gequälten
Kontrapostbewegung seinen Ausdruck findet (die Wendung und Biegung
des Körpers bezeugt den Entschluß für den Tugendweg, doch auf die
„Wollust“ fällt ein trauriger Abschiedsblick), so haben sich die Über-
redungskünste der Frauen zu drastischen Handgreiflichkeiten verstärkt:
die „Virtus“—in vollem Gegensatz zur Raffaelischen ebenso unheroisch
wie reizlos, mit ältlichen Zügen, und nonnenhaft in schwerfällige Gewän-
der gehüllt — sucht Hercules am rechten Handgelenk mit sich fortzu-
ziehen, während die jugendliche und in goldgesäumtem, tief ausge-
schnittenen Kleide einherstolzierende „Voluptas“ ihn am linken Oberarm
festhält.1) Das Ganze erinnert einigermaßen an einen Familienauftritt,
in dessen Verlauf eine erregte Mutter ihren auf Abwege geratenen Sohn
der „schlechten Gesellschaft“ zu entreißen versucht; und in der Tat
ist die Idee der Prodikeischen „Tugend“ recht oft mit einer Muttervor-
stellung zusammengeflossen.2)

Es läge nahe, den Unterschied zwischen Raffaels Scipiobild und
diesen beiden andern Darstellungen ausschließlich auf den Gegensatz
zwischen „umbrischem Lyrismus“ und „florentiner“ bzw. „mantegnesker
Dramatik“ zurückzuführen. Aber auch in diesem Falle steht es so, daß
sich das andersartige künstlerische Ausdrucksbedürfnis bei einer anders-
artigen Schriftquelle Anregung und Bestätigung gesucht hat. Diese
Quelle ist die Vita Apollonii Tyanei von PhilostratdemÄlteren,die —
heutzutage selbst den Philologen nicht immer vertraut — in früheren
Jahrhunderten zu den meist gelesenen Büchern gehörte, und die zu An-
fang des Cinquecento insofern einen gewissen Aktualitätsreiz besaß, als
gerade 1501 die erste lateinische Übersetzung gedruckt worden war.

1) „Virtus": olivgrünes Unterkleid, karminroter Mantel, graues Kopftuch. „Volup-
tas": blaugrünes Obergewand, purpurne Ärmel, goldene Haarspange, Gürtel und Sandalen
von vergoldetem Leder.

2) Vgl. Abb. 58 und Text S. 118. Als literarische Parallele wäre etwa die Szene
bei Metastasio zu nennen (vgl. S. 134 ff.), in der der schon der Wollust ziemlich zugeneigte
Hercules die „Aretea“ mit dem Ausruf begrüßt: „Son fuor di me: la madre mia . .
worauf sie etwas gekränkt erwidert: „T’inganni, no: ravviso in quel volto la nota maestä".
Auch bei Wieland (vgl. S. 136) ruft Hercules aus: „ So niedrig sollt ich seyn ? So schwach ?
So unwerth deiner Tugend, Alkmena ?“
 
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