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Noch einmal Raffaels Scipiobild

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recht guten Gründen dargetan, daß der Darstellung der drei Grazien nicht
eine beliebige Antike zugrunde liegt, sondern die berühmte Marmor-
gruppe der Dombibliothek zu Siena1): ein Werk, das als Geschenk eines
Piccolominipapstes an die Kommune seiner Vaterstadt für das antiken-
arme Siena eine fast wahrzeichenhafte Bedeutung besaß.2) Nimmt man
hinzu, daß die Borghesi, in deren Besitz das nunmehr erschlossene
Doppelbild erstmals erwähnt wird, in Siena ansäßig waren, so liegt die
Vermutung nahe, daß es von vornherein für einen Angehörigen dieses
Hauses gemalt sei; und diese Vermutung würde einen hohen Grad von
Wahrscheinlichkeit gewinnen, wenn sie sich mit der bekannten Renais-
sancegepflogenheit in Verbindung bringen ließe, die Träger großer mytho-
logischer oder historischer Namen durch Wort und Bild mit ihren 'Hpoosp
s7icovu[rot, zu identifizieren: mit andern Worten, wenn der zu späterer
Zeit bei den Borghesi so beliebte Vorname „Scipione“ bereits um 1500 in
ihrer Familie nachweisbar wäre. Dies ist nun in der Tat der Fall: nach
einer Auskunft des Sieneser Staatsarchivs sind in den Urkunden nicht
weniger als 6 vor 1531 geborene Scipioni erwähnt3), von denen der älteste —
Scipione di Tommaso di Borghese — im Jahre 1493 zur Welt kam. Er-
innern wir uns nun des öfter bezeugten Gebrauchs, einschneidenden Er-
eignissen des Jünglingslebens, darunter auch dem ,,Dies confirmationis“,
durch eine Darstellung der Prodikeischen Entscheidungsfabel höhere
Weihe zu geben4), so darf die Vermutung gewagt werden, daß Raffaels
„Traum des Ritters“ (samt seinem Gegenstück bzw. Reversbild) für
diesen kleinen Scipione di Tommaso di Borghese gemalt wor-
den sei, der im Jahre 1500 gerade ins firmungsfähige Alter getreten war5) —

1) Blätter für die Gemäldekunde I, 1904, S. 17H.

2) Es ist dabei' relativ gleichgültig, ob Raffael die Gruppe im Original oder in einer
zeichnerischen Aufnahme kennen gelernt hat, wie sie uns z. B. im Venezianer Skizzenbuch
erhalten ist. Beziehungen zum Sieneser Patriziat kann insbesondere Pinturicchio ver-
mittelt haben; denn daß dieser spätestens um 1502/3 mit Raffael in lebhafter Verbindung
stand, wird auch von solchen Forschern nicht geleugnet, die Raffaels Beteiligung an den
Libreria-Fresken ablehnen; vgl. Fischei, Raffaels Handzeichnungen, Textbd. I, S. 28.

3) Brief des Herrn Archivdirektor Pennacchini vom 5.1. 1929. Auch der berühmte
Kardinal Scipione Borghese wurde selbstverständlich als zweiter Africanus gefeiert. Sogar
in der poetischen Galleriebeschreibung des Francucci (vgl. unten S. 174) behandelt die 472.
Stanze den „Scipione Africano“, die 473. „Scipion Borghese simigliante all’ Affricano".

4) Vgl. vor allem Abb. 58 und Text S. 118. Aber auch der Venezianer Desco
(Abb. 53, Text S. in), Saxeolus Pratensis’ Xenophonübersetzung (S. 84), Wielands Ge-
burtstagskantate (S. 136), die für Karl VIII. von Frankreich und die jungen deutschen
Fürsten des 16. Jahrhunderts aufgeführten Herculesspiele (S. 84t.) und weiterhin die
Huldigungskompositionen von Sustris, Rubens und Gimignani (Abb. 57, 57 a, 62, 85)
gehören in diese Gruppe „ad iuvenem" argumentierender Darstellungen der Prodikosfabel.

5) Vgl. S. 118. Die Datierung der beiden Raffaelbilder schwankt bekanntlich
zwischen 1495/1500 und 1504/5; doch sind wir mit Gronau und Fischei der Meinung, daß
die Bilder „um 1500 oder wenig später“ gemalt sind. Am besten lassen sie sich mit dem
wohl 1501/2 entstandenen Hl. Michael des Louvre verbinden.
 
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