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Das Scipiobild und die ,,Drei Grazien“ in Chantilly

stern einen goldenen Apfel in die Hand gab, hat er sie, über ihre eigent-
liche Bedeutung als Göttinnen der Anmut und Freundschaft hinaus, zu
Trägerinnen einer Symbolik gemacht, die für die Zeitgenossen Raffaels
ohne weiteres verständlich war; denn die ÄpfelderHesperiden — und
goldene Äpfel können ja schlechterdings nichts anderes sein* 1) — sind
nach der Auffassung des 15. und 16. Jahrhunderts nicht sowohl ein
Zaubermittel zur Erlangung realer Unsterblichkeit, als vielmehr ein Sym-
bol des dem Hercules gebührenden Tugendlohns, das sich mehrfach
expressis verbis mit der Prodikeischen Entscheidungsfabel ver-
knüpft findet.

Das ursprüngliche Wesen der Hesperiden — deren Anzahl in der an-
tiken Überlieferung zwischen 1 und 11 schwankt, während sich das Mittel-
alter und namentlich die Neuzeit in der Regel auf die Hesiodische Drei-
zahl festgelegt hat2) — hat die Mythenforschung noch immer nicht
völlig aufzuklären vermocht.3) Der Baum aber, den sie behüten, ist ohne
Zweifel ein Stämmling jenes in fast allen Mythologien und auch im Mär-
chen so häufig begegnenden Lebensbaumes, von dem der „Baum der
Erkenntnis des Guten und Bösen“ gewissermaßen ein tabuisierter Neben-
sproß ist: seine goldenen Äpfel gewähren Unsterblichkeit im wörtlichsten
Verstände, und es ist begreiflich, wenn die im Altertum am meisten ver-
breiteten und auch in den Sarkophagzyklen in der Regel befolgten Zu-
sammenstellungen der 12 Herculestaten die Erwerbung dieses köst-
lichsten Gutes, das der Heros ursprünglich für sich und nicht für den
König Eurystheus gewinnt, an den Schluß des ganzen Dodekathlos gestellt
haben4), und wenn die Plastik seit hellenistischer Zeit mehr und mehr
dazu überging, dem Hercules, gleichsam als Inbegriff des Heldenlohnes,

leren Grazie schließt, daß sie ursprünglich keinen Apfel halten sollte, sondern die Hand
auf die Schulter ihrer Nachbarin legte; die Nachprüfung am Original bestätigte diese
Beobachtung und ihre Folgerungen.

1) Daß die drei Grazien, die in der Antike niemals feste Attribute hatten und oft ganz
ohne solche dargestellt werden, Früchte in der Hand halten (in der Antike allerdings
nie alle; eine beliebte Zusammenstellung ist: Apfel oder Mohnkopf, Myrtenzweig,
Blume — eine durch Pausanias VI, 24, 5, bezeugte und von Ripa s. v. „Amicizia“ wieder-
aufgenommene: Rose, Myrtenzweig, Würfel) kommt selbstverständlich auch sonst vor;
vgl. z. B. Mark-Antons Kupferstich B. 340, vor allem aber die bekannte Gruppe in
Cossas Venus-Fresko im Pal. Schifanoia. Aber es sind dann eben natürliche Früchte,
keine Goldkugeln.

2) Die Dreizahl verdankt ihren Erfolg natürlich in erster Linie ihrer eigenen Sugge-
stivität, daneben aber auch dem Ansehen des Servius-Kommentars zur Aeneis (VIII, 134),
der neben Fulgentius die Hauptquelle der späteren Mythographen darstellt. Seit Boccac-
cio, Geneal. Deor. IV, 30 und Berchorius IX, 5 (fol. 55 r des Pariser Drucks von 1509)
hat sie sich wohl überall durchgesetzt.

3) Vgl. Roschers Lex. s. v. ,,Hesperiden“.

4) Vgl. Robert, II, 1, S. nsff.; Abb. ebendort Nr. ioiff.

Studien der Bibliothek Warburg 18. Heft: Panofsky IO
 
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