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i55

Gründe für das Fehlen des , ,Virtus“-Bildes im Mittelalter

Reihen der Klugen und Törichten Jungfrauen, wie wir sie an den ober-
rheinischen Kirchenportalen erblicken, werden nicht von „Virtus“ und
„Voluptas“ geführt1), sondern vom Heiland und vomHerrn derWelt.

Von hier aus findet nun auch die Tatsache ihre Erklärung, daß es, so
weit wir wissen, vor der Mitte des 15. Jahrhunderts keine Dar-
stellung des „Hercules am Scheidewege“ gegeben hat, und daß
auch die Literatur das Thema erst um 14002) wiederaufgegriffen zu
haben scheint. Diese Tatsache ist an und für sich durchaus nicht selbstver-
ständlich; denn die Gestalt des Hercules ist dem mittelalterlichen Bewußt-
sein unter allerhand Formen durchaus lebendig geblieben, und gerade die
Prodikosfabel, von einem Kirchenvater als Beispiel edelster Gesinnung ge-
priesen und auf den ersten Blick,,ganz anmutend wie eine mittelalterliche
Moralität“ 3), scheint den Anschauungen der christlichen Ethik so weit ent-
gegenzukommen, daß sie sich, wie man meinen könnte, geradezu zu einem
Lieblingsthema der mittelalterlichen Kunst hätte entwickeln müssen. Allein
wir glauben jetzt den Grund zu sehen, aus dem das Gegenteil eintrat: die-
selbe Erzählung, die auf der einen Seite zu sehr „Moralität“ war,
als daß sie die Verfasser und Illustratoren rein weltlicher, romanhaft-
bunter Zyklen in der Art des „Livre du fort Hercules“ zur Aufnahme
hätte reizen können oder einer neuerlichen allegorischen Auslegung fähig

1) Die „Voluptas" der Freiburger Münster Vorhalle (übrigens eine thematisch nicht
nötige Füllfigur) wäre korrekter als „Luxuria“ zu bezeichnen.

2) Petrarca und Boccaccio nennen die Entscheidung des Hercules anscheinend eben-
sowenig wie die mittelalterlichen Mythographen, Berchorius, Villena, und des „Livre
du fort Hercules“. Die erste uns bekannt gewordene Erwähnung findet sich vielmehr
erst in einem 1391 begonnenen, aber beim Tode des Verfassers (1406) noch unvollendeten
Traktat des Florentiner Humanisten und Staatskanzlers Coluccio Salutati „Allegori-
carum librilV super fabulis Herculis“ (ungedruckt, aber erhalten in cod. Urbin. lat. 201,
fol. 141V ff. und Urbin. lat. 694, fol. 57 V ff.). Diese Schrift, auf die uns Herr Dr. Baron-
München freundlicherweise aufmerksam machte, enthält als 7. Kapitel des III. Buches
den Abschnitt: „Secundus laborHerculis. Vite electioet Menalie cerue confectio vel
captura“. Die Darstellung der Entscheidungsszene beschränkt sich auf das zum großen
Teil wörtliche Referat derselben beiden Quellen, die wir bei Brant und Josse Bade ver-
wertet fanden, nämlich Cicero, De Offic. I, 32, 118 und Basilius, De legend, libr. gentil. IV;
und auch darin kommt Salutati mit den oberrheinischen Humanisten überein, daß er
gleich jenen (vgl. das auf S. 64ff. über den Concertatio-Holzschnitt Gesagte) die antiken
Berichte über das Pythagoräische Y — die Petrarca noch ohne jede Bezugnahme auf die
Entscheidung des Hercules auswertet — bereits mit der Prodikosfabei zusammennimmt:
„In quo, sicut supra tetigimus, manifestatur Herculem heroice virtutis & virum diui-
nissimum extitisse. Sibi quidem, vt Persii uerbis vtar, Que Samios deduxit littera ramos
Surgentem dextro monstrauit limite callem. Inuenit enim Pythagoras Samius litteram Y,
que figura est humane uite. Nam ab imo primum incipiens vnico calle procedit quo
adueniat discretio iudicandi, tune autem funditur in duos quasi ramusculos hec littera,
quorum vnus subtilis & dexter tendit in arduum, alter autem reflexus & latus declinat
in leuum . . . .“

3) So Creizenach, Bd. II, S. 39.
 
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