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Die Umdeutung dev Sirenen-Vision bei den Dantekommentatoren IÖ3

irrig (denn ihre Deutung läßt für die Gestalt des Virgil überhaupt keinen
Raum) als „menschliche Vernunft“ und „menschliches Erkennen“,
das den Gestank und die Bosheit jener Laster entlarve.1) Demgegenüber
haben die Interpreten des Florentiner Humanistenkreises um
Polizian und Marsilio Ficino — Cristoforo Landino und Alessandro
Vellutello — zwar die ursprüngliche „Ragione“-Bedeutung des Virgil
wiederhergestellt und die „Donna onesta“ im Sinne eines der „Ragione“
grundsätzlich übergeordneten Prinzips zu erklären versucht (auf das
bloße, aber gleichwohl für die Säkularisierungstendenz bezeichnende Miß-
verständnis folgt also nunmehr die bewußte Umgestaltung), aber sie
suchen dieses höhere Prinzip nicht mehr in einer religiösen Sphäre: für
sie ist die „Donna onesta“, die die „Ragione“ erleuchtet, nicht mehr die
Gnade, sondern „la Filosofia, la quäle dispregia e biasma questi falsi
beni“, nämlich die verheißenen Gaben der „Dolce sirena“, die ganz im
Geist des Neuplatonismus als „la falsa, diffettiva et imperfetta Felicitä“
gedeutet wird, „che il senso, ingannandosi, reputa esser perfetta, de’ beni
e de’ diletti e piacer terreni.“2) Ihren folgerichtigen Abschluß aber findet
diese Entwicklung im vollen 16. Jahrhundert damit, daß die beiden
Gegnerinnen der Dantischen Traumvision mit eben den Na-
men belegt werden, die uns aus den Nacherzählungen der
nunmehr dem Zeitbewußtsein vertraut gewordenen Prodi-
kosfabel geläufig sind: der sehr verbreitete und angesehene Dante-
kommentar des Bernardino Daniello da Lucca interpretiert die
„Donna onesta“ als „la Virtü, la quäle per confondere la Voluttä in
favore e aiuto del Senso <sc. Dante)> et riprendendo fortemente Virgilio

1) Commedia di Dante degli Allagherii col Commento di Iacopo della Lana, ed.
L. Scarabelli, 1866, II, S. 2ogff.; Commento alla Div. Com. d’Anonimo Fiorentino del
Sec. XIV, ed. P. Fanfani 1868, Bd. II, S. 3o6ff.; Benvenuto da Imola, Commentum
super Dantis comoediam (ed. Vernon und Lacarta, 1887, III, S. 502). Pietro di
Dante (erwähnt in der Bianchischen Ausgabe der Div. Com.) interpretiert die edle Frau
als „Virtü intellettuale“, wobei aber der Ausdruck „virtü“ natürlich nichts mit,.Tugend"
zu tun hat, sondern gleich lat. „vis“ steht: „virtü intellettuale“ als Gegensatz zu „virtü
sensitiva“.

2) So Vellutello (Dante con l’espositione di Cristoforo Landino e di Alessandro Vellu-
tello, Venedig 1564, S. 228ff. Landino (ebendort) interpretiert fast gleichlautend; die erste
Frau ist „La falsa Felicitä", die von der Avarizia, Gula und Lussuria begehrt wird, ihre
Gaben sind „ricchezze, signorie, honori, fama (! vgl. dagegen die zahlreichen Darstel-
lungen der Herculesfabel, in denen gerade die Fama die Tugend belohnt, sowie die auf
S. 165 f. angeführten Zeugnisse) et voluttä corporea.“ Die edle Frau ist wiederum „la Filo-
sofia“, die der Vernunft zu Hilfe kommt „per confutar i uani piaceri.“ „Et Virgilio, id est
la ragione, riguardaua la philosophia & a l’altra donna stracciaua i panni. Adunque
la ragione stracciando epanni a questa voluptä mostra la sua bruttura. ..“ Ein außerhalb
dieses Humanistenkreises stehender Kommentator des 15. Jahrhunderts wie Stefano Ta-
lice da Ricaldone (ed. V. Promis und C. Negroni, 1888, Bd. II, S. 245) interpretiert da-
gegen noch ganz im Sinn des Trecento: die edle Frau ist die „discretio".
 
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