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Pfisterer, Ulrich; Donatello
Donatello und die Entdeckung der Stile: 1430-1445 — München: Hirmer Verlag, 2002

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https://doi.org/10.11588/diglit.57354#0417

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Rekonstruktion des Polykletischen Kanon verstanden, läßt sich nur vermu-
ten, allerdings mit einiger Wahrscheinlichkeit.242 243
Versuchen wir, das Verständnis von Donatellos Zeitgenossen zum Kanon
des Polyklet, wie er exemplarisch im Doryphoros verwirklicht war, zusam-
menzufassen: Es handelte sich bei dem Speerträger um einen ideal-schönen
jünglingsakt, der sich durch die ausgewogene symmetria seiner Proportio-
nierung (quadratus nennt es Plinius) auszeichnete. Den Quellen war nicht
eindeutig zu entnehmen, ob man unter diesem Kanon feststehende Abmes-
sungen bzw. auch eine Art von Proportionstafeln zu verstehen hatte. Dona-
tello jedenfalls hätte dies nicht getan. Das verbot ihm schon sein Verfahren,
die Werke dem Aufstellungsort und Blickwinkel des Betrachters entspre-
chend anzupassen, also nicht absoluten Maßen zu folgen, sondern dem sub-
jektiven Seheindruck gemäß optische Verzerrungen zu kompensieren. Eine
von Pomponius Gauricus zu Beginn des Cinquecento niedergeschriebene
Anekdote vom abacus des Meisters deutet in dieselbe Richtung: Als der
Bischof von Vicenza, Marco Barbo, ihn um sein künstlerisches Geheimnis
befragte, hinter dem dieser anscheinend eben jene Rechen- oder Propor-
tionstafeln oder zumindest komplizierte mathematische Verfahren vermu-
tete (Donatelli abacus), ließ ihn Donatello nach langem Bitten endlich in
seine Werkstatt kommen. Dort angelangt, fand Barbo nichts dergleichen
vor, sondern Donatello deutete nur auf seine Augen als seiner »Rechen-
maschine« und bot zum Beweis an, jede gewünschte historia zu malen, sei
sie in griechischem oder römischem Kostüm oder mit nackten Figuren!242
Die vielfach nachzuweisenden Bezüge zu den neu entdeckten Rhetoriktrak-
taten, ihre Angaben zum Stil antiker Bildwerke und zu Polyklet zusammen-
genommen erlauben für Donatellos Bronze-David nur eine Schlußfolge-
rung: Mit diesem wurde als erster neuzeitlicher Statue uarietas und gratia
des polykletischen Kontrapostes rekonstruiert. Ihre Naturnachahmung, die
»lebendiges Fleisch« und »weiche Haut« illusionierende Oberflächenbehand-
lung hätte sie nach der antiken Entwicklungsgeschichte der Bildhauerkunst
an die Spitze und neben die Werke Polyklets gestellt.
242 Siehe Andrews Aiken 1980; Zöllner 1990, 456-458 (mit der älteren Lit.);
Wolf 2000, 178-180. - Siehe auch jüngst allgemein Alexander Perrig, »Adams und Evas
authentische Maße oder: Was hat das Menschenbild des Mittelalters und der Renaissance
mit Noahs Arche zu tun?«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 22 (1989),
143-157; Der Entwurf des Künstlers: Bildhauerkanon in der Antike und Neuzeit, Ausstel-
lungskatalog, hg. Ernst Berger, Brigitte Müller-Huber und Lukas Thommen, Basel 1992;
Giacomo Berra, »La storia dei canoni proporzionali del corpo umano e gli sviluppi in area
lombarda alla fine del Cinquecento«, in: Raccolta vinciana, 25 (1993), 159-310.
243 Gauricus, De Sculptura, 65 (s. App. A, 44). - Dazu Summers 1981, 364-367.

4. »Die Kunst durch ein Kunstwerk offenbaren« 417
 
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