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Einleitung

Verbreitung des »Mythos« solcher Werke.6
Doch bleibt ein grundlegendes Defizit. Die
erwähnte Erforschung der Rezeption Michel-
angelos übergeht den Anfang aller Rezeption:
die Betrachtung des Werkes. Von wenigen Aus-
nahmen abgesehen hat man bisher versäumt,
den Akt der Betrachtung und seine Geschichte
zu erkunden, ein Defizit, das nicht nur im Falle
Michelangelos zu beklagen ist.7 Dieser Sachver-
halt verwundert um so mehr, als verschiedene
Medien der Kunstrezeption ein vielfältiges
Material für eine solche Geschichte bereitstel-
len. Ziel meiner Studie ist es, Beschreibungen
und Nachzeichnungen als Quellen einer Ge-
schichte der Betrachtung zu erschließen. Die
bisherige Erforschung dieser Rezeptionsmedien
ist sehr unterschiedlich verlaufen. Auf einige
Publikationen, die sachliche oder methodische
Voraussetzungen für dieses Buch liefern, sei im
folgenden hingewiesen.

a. Die Beschreibung. Beschreibungen von Kunst-
werken als literarische Gattung sind traditionell
ein Randgebiet, für das sich vor allem die
Literaturwissenschaft interessiert hat. Zahlrei-
che Studien haben ausgewählte und herausra-

gende Texte dieser Gattung - etwa Diderots
Salons - ausführlich untersucht. Erst seit eini-
gen Jahren hat das Thema in der Kunstwissen-
schaft Konjunktur, wovon insbesondere mehrere
Aufsatzsammlungen zeugen.8 Diese Publikatio-
nen haben zu einem klareren Bild der Ge-
schichte der Gattung geführt, doch fehlen nach
wie vor rezeptionsgeschichtlich orientierte dia-
chronische Vergleichsstudien der Beschreibun-
gen ausgewählter Werke.» Einmalig - nicht nur
im Rahmen der Michelangelo-Literatur - ist in
dieser Hinsicht die Arbeit von Paola Barocchi
[1962, Vita}. In den drei Anmerkungsbänden
ihrer Ausgabe von Vasaris Vita di Michelangelo
hat sie die Rezeption der einzelnen Werke
Michelangelos verfolgt, indem sie Beschreibun-
gen zusammenstellt und kommentiert. Handelt
es sich »nur« um die Anmerkungen einer Quel-
lenschrift, so liefern sie doch das bislang dich-
teste Bild der Michelangelo-Rezeption und bil-
den einen reichen Fundus für die vorliegende
Untersuchung der schriftlichen Rezeption der
Neuen Sakristei.

Entscheidende Anregungen methodischer
Art verdanke ich Michael Baxandall, der in
mehreren Studien das Verhältnis von Sprache

hingen [IV (= I), 1908, 500 - 534] und Pasquier [1913,
356-360]. Neuere Zusammenfassungen - etwa Tol-
nay, Earlier interpretations [III, 1948, 61 f.] - sind sehr
viel kürzer geblieben.

6 Cianchi, David. Storia e mito di una statua [um 1990]
und Vaticano, Michelangelo e la Sistina. La tecnica, il
restauro, il mito [1990].

7 Ein solches Defizit beklagte schon Dilly [1979, 43] im
Bezug auf die Kunstgeschichtsschreibung im Allgemei-
nen: »Die Geschichte des Sehens wird weder Problem
geschweige denn Thema der einzelnen [rezeptionsge-
schichtlichen] Untersuchungen.«

8 Das ausführlichste Projekt dieser Art war interdis-
ziplinär angelegt. Das daraus entstandene Buch faßt
weite Teile der bisherigen Forschung zusammen
[Boehm/Pfotenhauer, Beschreibungskunst - Kunst-
beschreibung 1995, Literaturverzeichnis 633 - 642].
Darüber hinaus beinhaltet es grundlegende Überlegun-
gen zur Theorie der Beschreibung und zahlreiche
Beiträge über einzelne Autoren von Kunstbeschreibun-
gen. Die geschichtliche Entwicklung der Gattung von
der antiken Ekphrasis bis hin zur neueren wissenschaft-
lichen Kunstbeschreibung habe ich meinerseits ver-
sucht, in zwei Aufsätzen darzustellen [Rosenberg
1995 und 1997]. Ein weiterer Sammelband zum Thema

der Kunstbeschreibung entstand mit pädagogischen
Absichten [Rebel, Sehen und Sagen. Das Öffnen der
Augen beim Beschreiben der Kunst 1996]. Nebst Bei-
spielen exemplarischer Beschreibungen beinhaltet er
einen weiteren Versuch, die Geschichte der Bildbe-
schreibung im Überblick darzustellen und untersucht
besonders ausführlich die deutschsprachige Tradition
seit dem 18. Jahrhundert [siehe die Aufsätze von Ernst
Rebel und Robert Trautwein in Rebel 1996,13 - 90].
Ein dritter diesem Thema gewidmeter Sammelband
verläßt die nun mehrfach betretenen Pfade, um sich
mit den weniger bekannten Kapiteln und Aspekten
einer Geschichte der Kunstbeschreibung auseinander-
zusetzen [Recht, Le texte de l'ceuvre d'art. La descrip-
tion 1998].
s Ansätze hierzu gelten der Rezeption von Raffaels Six-
tinischer Madonna [Schaeffer 192.7, Putscher 1955
und Ladwein 1993] sowie der Uta von Naumburg
[Ullrich 1998].
10 So Geissler [1983, 92]. Beiträge zu diesem Thema
wurden vor allem in Form von Ausstellungen geleistet.
Ein Überblick über die spärliche Literatur gibt Egbert
Haverkamp-Begemann im Katalog einer Ausstellung,
die er im New Yorker Drawing Center veranstaltet hat
[Creative Copies. Interpretative Drawings from Mi-
 
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