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Geschiebte und Funktion der Nachzeichnungen der Mediciskulpturen

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detailreichen Abbildung der Statuen gelegen
war. Seine systematischen Übertreibungen der
Haltung einzelner Glieder, durch die er ihre
Bewegung verdeutlicht, sind auffällig und im
Vergleich zu älteren Nachzeichnungen unge-
wöhnlich. Füsslis Aurora liegt auf einer sehr viel
steileren Unterlage und muß größere Anstren-
gungen unternehmen um nicht abzurutschen; ihr
rechter Arm ist stärker nach hinten abgestützt.
Das linke Bein ist entschieden aufgestellt, der
linke Arm weit erhoben und der Kopf energisch
nach oben gewendet. Wie auch Zuccaro unter-
streicht Füssli die Anspannung, das Aufwachen
und das Aufstehenwollen der Aurora. Doch tut
er dies mit einem für Zuccaro undenkbaren
Nachdruck. Obgleich mir keine diesbezüglichen
sprachlichen Äußerungen Füsslis bekannt sind,
ist wie bei Rodin die Interpretation der Statue
das Anliegen der Zeichnung. Sie dient der inter-
pretierenden Aneignung des Vorbildes. Dabei ist
sie, im Sinne der eingangs getroffenen Begriffs-
bestimmung, eine überaus deutliche Interpreta-
tion, aber keine Uminterpretation, also keine
Variation der Skulptur Michelangelos.

Mit der abnehmenden Bemühung um eine
sorgfältig gezeichnete, wiedererkennbare Ab-
bildung nimmt die Deutlichkeit der Interpreta-
tion zu. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts dient die Nachzeichnung vor allem
dem besseren Verständnis des Vorbildes und
dem Ausdruck von Interpretation.^» Rodins
besprochene Skizzen sind Kritzeleien, die in
wenigen Minuten auf winzigen Blättern festge-
halten wurden. Doch waren sie ihm wichtig
genug, um sie später auszuwählen und sorgfäl-
tig in größeren Alben einzukleben. Bis in seine
reiferen Jahren hat er nach den Mediciskulptu-

ren gezeichnet (NZ 377 - 394). Insgesamt sind
jedoch Nachzeichnungen nur ein kleiner Teil
seiner ausgedehnten grafischen Tätigkeit. Bei
anderen Künstlern des ausgehenden 19. und
des 20. Jahrhunderts wie Cezanne, Kokoschka
oder Giacometti machen dagegen Nachzeich-
nungen einen wesentlichen Anteil des zeichne-
rischen CEuvres aus. Sie alle haben intensiv
und bis zu ihrem Lebensende nach Kunst-
werken der Vergangenheit gezeichnet (vgl.
NZ 121 -128, 214-218 und 275-288),
und es scheint in diesem Fall berechtigt, von
einer eigenständigen Gattung der neueren
Kunst zu sprechen, deren Thema das Verste-
hen, das heißt die Interpretation des vergange-
nen Werkes und dessen zeichnerische >Umset-
zung< ist. Diese Künstler waren an jeweils
unterschiedlichen Werken interessiert und ha-
ben diese über Jahre immer wieder gezeichnet.
So sagte Giacometti: »Mich interessiert immer
am meisten, was sich schwer kopieren läßt.
Manche alten Werke verloren für mich ihren
vermeintlichen Wert in dem Augenblick, da es
sich zeigte, daß sie leicht zu kopieren sind.«
[zit. nach Koepplin 1995, 29].

Parallel zu dieser >Kunst der Nachzeichnung<
entwickelt die Kunstwissenschaft eigene sche-
matische Formen der interpretierenden Nach-
zeichnung aus didaktischer Absicht.'4° Ein Bei-
spiel ist eine Skizze der Notte (Taf. 43,
NZ 444), die der dänische Künstler und Kunst-
historiker Wilhelm Wanscher in seiner 1940
erschienenen Michelangelo-Monographie ab-
gedruckt hat. Sie soll die ovale Geschlossenheit
der Figur und - wie es Wanscher program-
matisch in der Bildlegende formuliert - >die
Wirkung der Kurven und Gegenkurven zeigen<.

zunehmend die akademisch exakte detailtreue Kopie
ersetzte, und daß viele Künstler (Delacroix, Fantin-
Latour, Cabanel, Bonnat u.a.) in ihrer Jugend akade-
mische, im Alter skizzenhafte Kopien anfertigten.
Über das Kopieren im 19. Jahrhundert siehe auch
Homburg [1996].
140 Eines der frühesten Beispiele gibt Jacques Reverony
Saint-Cyr [1803 II, 2, vgl. Körner 1988, Taf. 39],
der auf einer Tafel die Komposition verschiedener
Gemälde erläutert. Ein künstlerischer Höhepunkt die-
ser »Gattung« ist Johannes Ittens Analyse alter Mei-

ster [1921]. Itten stellt die Interpretation von fünf Bil-
dern anhand schematischer Nachzeichnungen und
typografischer Gestaltung vor [vgl. Bätschmann
1984, § 19]. Die noch heute weitverbreitete schematische
Kompositionsnachzeichnung von Kunsthistorikern
hat Roy Lichtenstein in dem Portrait of Madame
Cezanne parodiert: ein großformatiges Gemälde nach
der schematischen Kompositionszeichnung eines
Kunsthistorikers (Erle Loran) nach Cezannes Porträt
seiner Frau (1962, Privatsammlung, New York, vgl.
Waldman [1994, 37 ff., Abb. 35]).
 
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