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Die Interpretation der Skulpturen in den Nachzeichnungen

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Andrea Boscoli, zwei gleichaltrigen Künstlern,
die in Florenz im Umkreis der Accademia del
Disegno ausgebildet wurden. Die zwei Kreide-
blätter sind von ähnlicher Größe und stilistisch
eng verwandt. Beide sind mit feinen, nervösen
Umrißstrichen und durchgehend parallelen
Schraffen gezeichnet, die sich bis hin zu flecki-
gen Schatten verdichten und sowohl den Ein-
druck punktueller Tiefenräumlichkeit vermit-
teln als auch Akzente setzen. Während Cigoli
schwarze Kreide verwendet, zeichnet Boscoli
mit Rötel, was - zumal in der Abbildung - die
milderen Helldunkelkontraste erklärt.

Cigoli läßt den Sitz der Madonna und die
Basis der Statue aus (vgl. Taf. 54a). Die plasti-
sche Modellierung ist zugunsten von großen
zusammenfassenden flächigen Einheiten unter-
drückt: die in ihren Proportionen in die Höhe
gestreckte Gruppe erscheint auf dem Blatt
schwerelos. Der linke Unterschenkel der Ma-
donna ist merklich zurückgebogen und steigert
die Labilität der Gruppe. Im Gegenzug beugt
sich der Oberkörper deutlich vor und um-
schließt liebevoll das Kind. Der Zeichner hat
ihre linke Hand, mit der sie den Knaben hält,
betont, während ihre Rechte im Schatten ver-
schwindet, um den geschlossenen Umriß der
Figur nicht zu stören. Zugleich wurde die
Torsionsbewegung des Jesuskindes gesteigert:
sein rechtes Bein liegt tiefer als bei Michelange-
lo, die Fußspitze weiter zum Betrachter hinge-
wendet; die Drehung des Rumpfes auf Maria zu
ist klar artikuliert, vom Gesäß zur erhöhten
rechten Schulter bis zum erhobenen Arm; der
Kopf ist deutlich in den Nacken gelegt. Cigoli
betont überall die Bewegungsmomente der

Gruppe: die Bewegung beider Figuren zu-
einander; den labilen Gesamtumriß - den gro-
ßen Schwung der sich vorbeugenden Madonna,
der in der am rechten Rand offenen senkrechten
Achse abbricht; das anschauliche Bewegungs-
potential der im Unterkörper des Madonnenge-
wandes rhythmisch gegliederten, durch tiefen
Schatten voneinander abgesetzten Flächen.

Andrea Boscoli (Taf. 55, NZ 54) wählt eine
Ansicht, die weiter rechts (Taf. 55a) liegt als bei
Cigoli. Der Standpunkt kann in diesem Fall
jedoch nicht festgelegt werden, denn Boscoli
scheint sich während des Zeichnens bewegt zu
haben. So ist die untere Hälfte des Blattes wei-
ter von links aufgenommen als Marias linker
Arm. Dies erklärt aber seine Abweichungen
vom Vorbild nicht vollständig. Behutsam voll-
endet Boscoli die Gruppe. Der unvollendete
Sockel ist ausgelassen, manches dagegen fertig-
gestellt: so der Fuß der Mutter und das Tuch
unter dem linken Bein des Kindes. Boscoli
senkt die Augenlider der Madonna und den bei
Michelangelo mehrdeutigen Blick zum Kind,
was die Beziehung beider Figuren intensiviert.
Boscolis modulierende Schraffur ist meisterhaft
in der präzisen Andeutung von Details wie
Gewandfalten und einzelnen Muskeln, ohne
diese ausführlich wiederzugeben. Dies ermög-
licht eine Konzentration auf die großen, teils fi-
gurenübergreifenden Kompositionsachsen der
Statuengruppe. So verdeutlicht Boscoli die dia-
gonalen Verläufe und verstärkt deren Nei-
gungswinkel: Marias Unterschenkel ist über-
längt und spitzt sich nach oben bis zum Knie
des Kindes zu. Parallel verlaufen nicht nur der
rechte Unterschenkel und der linke Arm des

ohne Kunstlicht mit dem indirekten natürlichen Ober-
licht, das die Kapelle seit Jahrhunderten konstant
beleuchtet, aufgenommen. Der Lichteinfall bleibt im
Verlauf des Tages weitgehend konstant, Veränderun-
gen sind vor allem witterungsbedingt. Sie betreffen
nicht die Lage der Schatten, sondern ihre Härte, also
den Kontrast, der beim Grab des Lorenzo an der nörd-
lichen Wand der Kapelle meist schärfer ausfällt als bei
dem des Giuliano. Diese fotografischen Aufnahmen
sind der Zeichnung jeweils gegenübergestellt und sol-
len dem Leser den Vergleich ermöglichen. Dabei darf
trotz aller erwähnten Vorsichtsmaßnahmen die Re-

duktions- und Interpretationsleistung der Fotografie
nicht unterschätzt werden: Fotografien geben nur
ungenügend die Materialität der Zeichenmittel und
die unterschiedliche Oberflächenstruktur und Plasti-
zität des Marmors wieder; sie erhöhen andererseits die
flächenhaft-bildlichen Aspekte der Statuen. Eine mit
der hier durchgeführten Untersuchung von Nachzeich-
nungen vergleichbare Studie ließe sich ja auch für die
Fotografien der Skulpturen durchführen. Die aller-
ersten die Skulptur Michelangelos betreffenden Schrit-
te in diese Richtung hat bereits Battisti [1989] ge-
leistet.
 
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