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Die Interpretation der Mediciskulpturen in Beschreibungen und Nachzeichnungen
Um 1545 verfaßt der Florentiner Giovanni di
Carlo Strozzi einen lobenden Vierzeiler:
La Notte, che tu vedi in si dolci atti
dormir, fu da uno Angelo scolpita
in questo sasso, e, perche dornte, ha vita:
destala, se nol credi, e parleratti.
[zit. nach Girardi i960, 403]
Die Nacht, die du so reizend hier schlafen siehst,
ist von einem Engel in diesen Stein gehauen.
Und da sie schläft, lebt sie:
wecke sie auf, wenn du es nicht glaubst, und sie
wird reden.
[Übers, frei nach Hermann Grimm]
Michelangelo greift kurz darauf das Motiv der
lebenden Schläferin geistvoll auf und gibt eine
gereimte Antwort, die er von der Notte spre-
chen läßt:
Caro [Grato] m' e'l sonno, e piü l'esser di sasso,
mentre che 7 danno e la vergogna dura,
non veder, non sentir m' e gran Ventura;
perö non mi destar, deh, parla basso.
[ed. Girardi i960, No. 247]
Schlaf ist mir lieb, doch über alles preise
ich, Stein zu sein, Währt Schande und Zerstören,
nenn ich es Glück: nicht sehen und nicht hören.
Drum wage [mich] nicht zu wecken. Ach! Sprich
leise.
[Übers, von Rainer Maria Rilke]
Es ist der alte Pygmalion-Topos, der eine Stei-
gerung erfährt: Je tiefer der Schlaf der Notte
ist, desto mehr kann Unsicherheit darüber herr-
schen, ob sie in Fleisch und Blut wieder erwa-
chen wird oder in Marmor für immer tot
bleibt. Zwar lebt sie, aber sie will nicht
geweckt werden, nicht in die Welt zurückkeh-
ren. Bereits in der ersten Auflage der Vite zitiert
Vasari [1550, ed. Barocchi 1962, 63] die
Gedichte Strozzis und Michelangelos, die seit-
dem in fast allen Texten über die Kapelle abge-
druckt wurden. Einerseits hat Michelangelos
Gedicht die Rezeption der Statue maßgeblich
geprägt, andererseits hat es offensichtlich we-
sentlich dazu beigetragen, daß die Notte lange
Zeit die berühmteste Skulptur der Kapelle
war.w Das Gedicht hatte entscheidenden Ein-
fluß auf die Beschreibungen der Skulptur, die
immer wieder den Schlaf der Notte beteuern,
und es hat die antimediceischen Deutungen der
Kapelle (siehe oben S. 39) veranlaßt.
Die Rezeption der Neuen Sakristei im allge-
meinen und der Notte im besonderen ist seit
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aufs
engste mit Michelangelos Gedicht verbunden.
Den meisten Besuchern der Kapelle und natür-
lich auch den Künstlern unter ihnen dürfte es
bekannt gewesen sein.l6° Ob es einen direkten
Einfluß auf die Interpretation der Nachzeich-
nungen der Notte ausübte, ist schwer zu beur-
teilen. Auffällig ist jedenfalls, daß ihre zeichne-
rische Rezeption im Gegensatz zu der anderer
Skulpturen der Kapelle recht einheitlich verlau-
fen ist (vgl. dagegen die S. 64 - 68). besproche-
nen Nachzeichnungen der Medicimadonna und
des Giorno). Dabei weist diese Interpretation,
die insbesondere den in sich abgerundeten, ver-
schlossenen (Ober-)Körper der Figur betont,
durchaus Ähnlichkeiten mit der schriftlichen
Interpretation der in einen tiefen Schlaf versun-
kenen, von der Außenwelt abgekehrten Figur
auf. Allerdings ist eine solche Interpretation
bereits in einer um 1536 entstandenen Zeich-
nung von Battista Franco (Taf. 33, NZ 195)
nachweisbar, die also Donis Brief und Miche-
langelos Gedicht zeitlich vorausgeht. Wie in
den meisten Nachzeichnungen ist hier die
Notte >frontal<, d.h. rechtwinkelig zum Mar-
morblock, dargestellt (Taf. 33a). Das aus dem
Papierformat herausfallende rechte Bein war
möglicherweise von Anfang an in diesem
nachträglich beschnittenen Blatt ausgelassen.
Francos Kreidezeichnung fällt durch die mi-
niaturhafte Wiedergabe von Einzelheiten auf.
rS9 Es gibt eine Reihe von älteren Autoren, die diese Skulp-
tur über die anderen stellen und dabei meist Michel-
angelos Gedicht zitieren: Audebert [1576, f. 189 v.J,
Ottonelli/Berrettini [1652, 218], Chantelou
[1665, 44 f.], LASSELS [167O, I, 160], HüYSSEN [17OI,
79] und Richard [1766, III, 38 f.], Arndt [1801,
320]. Interessant ist auch, daß die Notte im Laufe der
Jahrhunderte ein vielfaches an >Bildgedichten< ange-
Die Interpretation der Mediciskulpturen in Beschreibungen und Nachzeichnungen
Um 1545 verfaßt der Florentiner Giovanni di
Carlo Strozzi einen lobenden Vierzeiler:
La Notte, che tu vedi in si dolci atti
dormir, fu da uno Angelo scolpita
in questo sasso, e, perche dornte, ha vita:
destala, se nol credi, e parleratti.
[zit. nach Girardi i960, 403]
Die Nacht, die du so reizend hier schlafen siehst,
ist von einem Engel in diesen Stein gehauen.
Und da sie schläft, lebt sie:
wecke sie auf, wenn du es nicht glaubst, und sie
wird reden.
[Übers, frei nach Hermann Grimm]
Michelangelo greift kurz darauf das Motiv der
lebenden Schläferin geistvoll auf und gibt eine
gereimte Antwort, die er von der Notte spre-
chen läßt:
Caro [Grato] m' e'l sonno, e piü l'esser di sasso,
mentre che 7 danno e la vergogna dura,
non veder, non sentir m' e gran Ventura;
perö non mi destar, deh, parla basso.
[ed. Girardi i960, No. 247]
Schlaf ist mir lieb, doch über alles preise
ich, Stein zu sein, Währt Schande und Zerstören,
nenn ich es Glück: nicht sehen und nicht hören.
Drum wage [mich] nicht zu wecken. Ach! Sprich
leise.
[Übers, von Rainer Maria Rilke]
Es ist der alte Pygmalion-Topos, der eine Stei-
gerung erfährt: Je tiefer der Schlaf der Notte
ist, desto mehr kann Unsicherheit darüber herr-
schen, ob sie in Fleisch und Blut wieder erwa-
chen wird oder in Marmor für immer tot
bleibt. Zwar lebt sie, aber sie will nicht
geweckt werden, nicht in die Welt zurückkeh-
ren. Bereits in der ersten Auflage der Vite zitiert
Vasari [1550, ed. Barocchi 1962, 63] die
Gedichte Strozzis und Michelangelos, die seit-
dem in fast allen Texten über die Kapelle abge-
druckt wurden. Einerseits hat Michelangelos
Gedicht die Rezeption der Statue maßgeblich
geprägt, andererseits hat es offensichtlich we-
sentlich dazu beigetragen, daß die Notte lange
Zeit die berühmteste Skulptur der Kapelle
war.w Das Gedicht hatte entscheidenden Ein-
fluß auf die Beschreibungen der Skulptur, die
immer wieder den Schlaf der Notte beteuern,
und es hat die antimediceischen Deutungen der
Kapelle (siehe oben S. 39) veranlaßt.
Die Rezeption der Neuen Sakristei im allge-
meinen und der Notte im besonderen ist seit
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aufs
engste mit Michelangelos Gedicht verbunden.
Den meisten Besuchern der Kapelle und natür-
lich auch den Künstlern unter ihnen dürfte es
bekannt gewesen sein.l6° Ob es einen direkten
Einfluß auf die Interpretation der Nachzeich-
nungen der Notte ausübte, ist schwer zu beur-
teilen. Auffällig ist jedenfalls, daß ihre zeichne-
rische Rezeption im Gegensatz zu der anderer
Skulpturen der Kapelle recht einheitlich verlau-
fen ist (vgl. dagegen die S. 64 - 68). besproche-
nen Nachzeichnungen der Medicimadonna und
des Giorno). Dabei weist diese Interpretation,
die insbesondere den in sich abgerundeten, ver-
schlossenen (Ober-)Körper der Figur betont,
durchaus Ähnlichkeiten mit der schriftlichen
Interpretation der in einen tiefen Schlaf versun-
kenen, von der Außenwelt abgekehrten Figur
auf. Allerdings ist eine solche Interpretation
bereits in einer um 1536 entstandenen Zeich-
nung von Battista Franco (Taf. 33, NZ 195)
nachweisbar, die also Donis Brief und Miche-
langelos Gedicht zeitlich vorausgeht. Wie in
den meisten Nachzeichnungen ist hier die
Notte >frontal<, d.h. rechtwinkelig zum Mar-
morblock, dargestellt (Taf. 33a). Das aus dem
Papierformat herausfallende rechte Bein war
möglicherweise von Anfang an in diesem
nachträglich beschnittenen Blatt ausgelassen.
Francos Kreidezeichnung fällt durch die mi-
niaturhafte Wiedergabe von Einzelheiten auf.
rS9 Es gibt eine Reihe von älteren Autoren, die diese Skulp-
tur über die anderen stellen und dabei meist Michel-
angelos Gedicht zitieren: Audebert [1576, f. 189 v.J,
Ottonelli/Berrettini [1652, 218], Chantelou
[1665, 44 f.], LASSELS [167O, I, 160], HüYSSEN [17OI,
79] und Richard [1766, III, 38 f.], Arndt [1801,
320]. Interessant ist auch, daß die Notte im Laufe der
Jahrhunderte ein vielfaches an >Bildgedichten< ange-