1 Die Stadt, ihr Text und ihre Lesarten
„Keiner weiß besser als du, weiser Kublai, dass man die Stadt niemals mit
der Rede verwechseln darf, die sie beschreibt." Italo Calvino benennt mit
diesen Worten aphoristisch knapp und zugleich treffsicher, dass eine Stadt
in ihrer Totalität keinesfalls mit den Mitteln der Sprache erfasst werden
kann, dass jeder vermeintlich umfassende Zugriff tatsächlich nur eine
Annäherung und ein partikulares Verstehen ist.1 „Und doch", so fährt er
in „Die unsichtbaren Städte"2 fort, „gibt es zwischen der einen und der an-
deren eine Beziehung."3 Die Rede von der Stadt ist also weder beliebig
noch vergeblich. Man kann die Stadt in Erzählung überführen, aber dieser
sich so ergebende Text als Summe narrativer und analytischer Einzeltexte
ist nicht die Stadt. Ein solcher Text ist auch prinzipiell niemals dazu in der
Lage, die Stadt in ihrer Vielfalt zu repräsentieren.
Genauso wenig wie den Text über die Stadt gibt es die Stadt - auch nicht
die antike Stadt4 - als kollektiven Singular: Zwischen Antiochia im Osten
und Emerita Augusta im spanischen Westen bestanden himmelweite
Unterschiede, nicht anders als zwischen den weniger exzentrisch gele-
genen Metropolen wie Alexandria, dem spätantiken Konstantinopel oder
Rom selbst, mochten sie sich auch allesamt auf dem Boden des Imperium
Romanum befinden und in dessen administrative wie kulturelle Welt ge-
hören. Die meisten dieser Städte sind nur mit Mühe über die Zeiten hin-
weg differenziert zu erfassen, selbst für die urbane Gestalt von Alexandria
oder Antiochia gibt es nicht in allen Epochen genügend archäologisches
oder gar literarisches Material, um eine annähernd lückenlose Stadtge-
schichte zu schreiben. Besser sieht es nur für Athen aus - und vor allen
anderen für Rom.
Die privilegierte Stellung Roms bietet die ideale Gelegenheit, um zu
untersuchen, wie sich eine Stadt im polaren Feld von Literatur und mate-
rieller Stadtgestalt positioniert und je nach Perspektive unterschied-
lich darstellt. Denn wenn mit Walter Jens die antike Literatur „topisch,
1 Siehe dazu grundsätzlich Fuhrer/Mundt/Stenger 2015, 1-18 („Introduction").
2 Italo Calvino, Le cittä invisibili, Torino 1972; vgl. zuletzt Rivoletti 2015.
3 „Nessuno sa meglio di te, saggio Kublai, ehe non si deve mai confondere la cittä col dis-
corso ehe la descrive. Eppure tra l'una e l'altro c'e un rapporto."
4 Vgl. Kolb 1984.
„Keiner weiß besser als du, weiser Kublai, dass man die Stadt niemals mit
der Rede verwechseln darf, die sie beschreibt." Italo Calvino benennt mit
diesen Worten aphoristisch knapp und zugleich treffsicher, dass eine Stadt
in ihrer Totalität keinesfalls mit den Mitteln der Sprache erfasst werden
kann, dass jeder vermeintlich umfassende Zugriff tatsächlich nur eine
Annäherung und ein partikulares Verstehen ist.1 „Und doch", so fährt er
in „Die unsichtbaren Städte"2 fort, „gibt es zwischen der einen und der an-
deren eine Beziehung."3 Die Rede von der Stadt ist also weder beliebig
noch vergeblich. Man kann die Stadt in Erzählung überführen, aber dieser
sich so ergebende Text als Summe narrativer und analytischer Einzeltexte
ist nicht die Stadt. Ein solcher Text ist auch prinzipiell niemals dazu in der
Lage, die Stadt in ihrer Vielfalt zu repräsentieren.
Genauso wenig wie den Text über die Stadt gibt es die Stadt - auch nicht
die antike Stadt4 - als kollektiven Singular: Zwischen Antiochia im Osten
und Emerita Augusta im spanischen Westen bestanden himmelweite
Unterschiede, nicht anders als zwischen den weniger exzentrisch gele-
genen Metropolen wie Alexandria, dem spätantiken Konstantinopel oder
Rom selbst, mochten sie sich auch allesamt auf dem Boden des Imperium
Romanum befinden und in dessen administrative wie kulturelle Welt ge-
hören. Die meisten dieser Städte sind nur mit Mühe über die Zeiten hin-
weg differenziert zu erfassen, selbst für die urbane Gestalt von Alexandria
oder Antiochia gibt es nicht in allen Epochen genügend archäologisches
oder gar literarisches Material, um eine annähernd lückenlose Stadtge-
schichte zu schreiben. Besser sieht es nur für Athen aus - und vor allen
anderen für Rom.
Die privilegierte Stellung Roms bietet die ideale Gelegenheit, um zu
untersuchen, wie sich eine Stadt im polaren Feld von Literatur und mate-
rieller Stadtgestalt positioniert und je nach Perspektive unterschied-
lich darstellt. Denn wenn mit Walter Jens die antike Literatur „topisch,
1 Siehe dazu grundsätzlich Fuhrer/Mundt/Stenger 2015, 1-18 („Introduction").
2 Italo Calvino, Le cittä invisibili, Torino 1972; vgl. zuletzt Rivoletti 2015.
3 „Nessuno sa meglio di te, saggio Kublai, ehe non si deve mai confondere la cittä col dis-
corso ehe la descrive. Eppure tra l'una e l'altro c'e un rapporto."
4 Vgl. Kolb 1984.