1 Die Stadt, ihr Text und ihre Lesarten
11
die moderne u-topisch" ist5, dann ist Rom dafür das exemplum schlecht-
hin. Bis zur Spätantike ist der Ort, an dem die lateinische Literatur ihren
Platz hat, selbstverständlich und exklusiv Rom, ob das nun jeweils thema-
tisiert wird oder nicht.
Obwohl die Quellen zu Rom manchmal sogar über das verwertbare
Maß hinaus fließen, repräsentieren sie einen spezifischen Ausschnitt,
nämlich vor allem die Perspektive der materiell und bildungsmäßig privi-
legierten Schichten. Dieses Rom ist ein monumentales Rom, die Bauten
und die ganze Stadtanlage entsprechen dem Rang als zentralem Ort des
Imperium Romanum; die einfachen Menschen sind Publikum in dieser
Stadt, nicht eigentliche Träger von Handlung. Ihre Zustimmung und ihr
Applaus kosten die Herrschenden panem et circenses, aber keine wirkliche
Partizipation. Auch bewegen sich diese minder privilegierten Schichten in
einer anderen Welt, von der nur in verschwindendem Maß Zeugnisse aus
erster Hand existieren. Eines der raren Gegenbeispiele, das tatsächlich
nicht den Blickwinkel von oben repräsentiert, ist eine Erzählung aus der
Regierungszeit Neros, als ein Mann nach Rom gebracht wurde, der zwar
sehr gebildet war, aber einer sozial deklassierten Gruppe angehörte, den
Christen. Der Apostel Paulus von Tarsus6 musste in Rom seinen Prozess
erwarten. Die zwei Jahre dieser Wartezeit verbrachte er in einer Art von
Hausarrest, der ihn aber nicht von der Kommunikation mit Besuchern ab-
schnitt (Apg. 28,16u. 30-31; Einheitsübersetzung):
ότε δέ είσήλθομεν εις 'Ρώμην, έπετράπη τφ Παύλφ μένειν καθ' έαυτόν
σύν τφ φυλάσσοντι αύτόν στρατιώτη ... ένέμεινεν δέ διετίαν δλην έν
ίδίω μισθώματι, καί άπεδέχετο πάντας τούς είσπορευομένους προς
αύτόν, κηρύσσων τήν βασιλείαν τού θεού καί διδάσκων τά περί τού
κυρίου Ιησού Χριστού μετά πάσης παρρησίας άκωλύτως.
Nach unserer Ankunft in Rom erhielt Paulus die Erlaubnis, für sich
allein zu wohnen, zusammen mit dem Soldaten, der ihn bewachte ...
Er blieb zwei volle Jahre in seiner Mietwohnung und empfing alle, die
zu ihm kamen. Er verkündete das Reich Gottes und trug ungehindert
und mit allem Freimut die Lehre über Jesus Christus, den Herrn, vor.
Es gibt also Menschen und Menschengruppen, die sich zwar in Rom be-
finden - sei es freiwillig, sei es gezwungen -, die aber von der Monumen-
talität der Stadt und ihrer Prägung durch den Herrscher nichts mitbekom-
men und auch nichts mitbekommen wollen. Das monumentale Rom, die
5 Jens 1998, 91 über den Unterschied von griechischem und modernem Drama. Der Be-
fund kann mit guten Gründen verallgemeinert werden.
6 Nippel 2003; Riesner 2011, bes. 153-157.
11
die moderne u-topisch" ist5, dann ist Rom dafür das exemplum schlecht-
hin. Bis zur Spätantike ist der Ort, an dem die lateinische Literatur ihren
Platz hat, selbstverständlich und exklusiv Rom, ob das nun jeweils thema-
tisiert wird oder nicht.
Obwohl die Quellen zu Rom manchmal sogar über das verwertbare
Maß hinaus fließen, repräsentieren sie einen spezifischen Ausschnitt,
nämlich vor allem die Perspektive der materiell und bildungsmäßig privi-
legierten Schichten. Dieses Rom ist ein monumentales Rom, die Bauten
und die ganze Stadtanlage entsprechen dem Rang als zentralem Ort des
Imperium Romanum; die einfachen Menschen sind Publikum in dieser
Stadt, nicht eigentliche Träger von Handlung. Ihre Zustimmung und ihr
Applaus kosten die Herrschenden panem et circenses, aber keine wirkliche
Partizipation. Auch bewegen sich diese minder privilegierten Schichten in
einer anderen Welt, von der nur in verschwindendem Maß Zeugnisse aus
erster Hand existieren. Eines der raren Gegenbeispiele, das tatsächlich
nicht den Blickwinkel von oben repräsentiert, ist eine Erzählung aus der
Regierungszeit Neros, als ein Mann nach Rom gebracht wurde, der zwar
sehr gebildet war, aber einer sozial deklassierten Gruppe angehörte, den
Christen. Der Apostel Paulus von Tarsus6 musste in Rom seinen Prozess
erwarten. Die zwei Jahre dieser Wartezeit verbrachte er in einer Art von
Hausarrest, der ihn aber nicht von der Kommunikation mit Besuchern ab-
schnitt (Apg. 28,16u. 30-31; Einheitsübersetzung):
ότε δέ είσήλθομεν εις 'Ρώμην, έπετράπη τφ Παύλφ μένειν καθ' έαυτόν
σύν τφ φυλάσσοντι αύτόν στρατιώτη ... ένέμεινεν δέ διετίαν δλην έν
ίδίω μισθώματι, καί άπεδέχετο πάντας τούς είσπορευομένους προς
αύτόν, κηρύσσων τήν βασιλείαν τού θεού καί διδάσκων τά περί τού
κυρίου Ιησού Χριστού μετά πάσης παρρησίας άκωλύτως.
Nach unserer Ankunft in Rom erhielt Paulus die Erlaubnis, für sich
allein zu wohnen, zusammen mit dem Soldaten, der ihn bewachte ...
Er blieb zwei volle Jahre in seiner Mietwohnung und empfing alle, die
zu ihm kamen. Er verkündete das Reich Gottes und trug ungehindert
und mit allem Freimut die Lehre über Jesus Christus, den Herrn, vor.
Es gibt also Menschen und Menschengruppen, die sich zwar in Rom be-
finden - sei es freiwillig, sei es gezwungen -, die aber von der Monumen-
talität der Stadt und ihrer Prägung durch den Herrscher nichts mitbekom-
men und auch nichts mitbekommen wollen. Das monumentale Rom, die
5 Jens 1998, 91 über den Unterschied von griechischem und modernem Drama. Der Be-
fund kann mit guten Gründen verallgemeinert werden.
6 Nippel 2003; Riesner 2011, bes. 153-157.