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Schleswig - Rolftein
Gegenwart

Jiei den großen Meiftern der muTtfca-
lifcben Klaffik und Romantik haben
Stamm und Raffe auf Hnlage und ent-
Wickelung ihres perfönltcben Charakters
weit mehr als auf die ihrer KunTt an Hch
eingewirkt. Jn der Mufik des Stamm-
vaters aller fcbleswig-bolfteinifcben Ton-
dichter der Gegenwart, Johannes
Brahms (1833—1897) dagegen liegt die
6igenart feines Stammes, feiner Raffe
unmittelbar und in aller Stärke auch für
den befcbloffen, der von feiner Perfönlicb-
hcit nichts weiß. Brahms redet ganj und
gar verftändlicb doch wohl nur für den
Menfcben feines Stammes. Der Ham-
burger Brahms ift von beiden eitern her
Ditbmarfcber, I)olfteiner. So ift feine
KunTt nicht allein ernft, charaktervoll und
eigen, fondern zugleich ausgeprägt nieder-
deutfcb, bolfteinifcb.

Der hünftlerifche Husdruck des Rieder-
deutfcben aus Scbleswig-I)olftein gipfelt
für die ältere Zeit dicbterifcb in friedrieb
Hebbel und Theodor Storm. Dort der
grüblerifcb ernfte Tragiker der Dramen,
hier der wehmütig finnende 6legiker der
Kovellen. Die Grundelemente nieder-
deutfeber Kunft aber, den mächtigen Zug
jur Ballade, ?um 6pos, ?ur tragifchen
Jdylle bei beiden. Ton beiden fpinnen
fieb fäden ?ur Brabmfifcben Kunft, die
ftärkften ju Storm. Brahms bat gelegent-
lich — am deutlichften in der Tragifcben
Ouvertüre, der Gdward - Klavierballade,
der erften (C-moll-)Sympbonie — Mo-
mente F>ebbelfcber Tragik. 6r bat auch
Momente Hebbecke" felbftquälerifchen
Grübelns. Zu ihnen tritt das Gefpen-
ftifche Habbels, die Wiedergabe jwangvoll
peinigender Geficbte in fo manchem
Scherjo, fo manchem dunkelnden Moll-
fcbluß feftlicher Durftücke. Solche Hrt
von Kunft ift „febwer zugänglich", und
Hebbel wie Brahms muffen daher geiftige
Mitarbeit vom Hörer verlangen. Gerade
die berbhräftigen und drohenden, ja, die
dämonifeben H6'5'36^*611 Glemente in
Brahms' Kunft haben ihrer Verbreitung
am längften und dauerndften im Stiege ge-
ftanden.

Dicht fo die menfeblicberen und ge-
fühlsmäßigeren Cbcodor Storm s.
Storms Dovellenkunft ift in den Schleier

febe Condicbter der

Ton

Dr. Walter Diemann, Ceipjig

gleich füßer wie trauriger Gntfagung und
Erinnerung an Tergangenes und Ter-
lorenes gehüllt. 6s ift der Ton ernfter
Sntfagung, tapferer Selbftüberwindung
für alle, die febwer am Ceben tragen. 6s
find die dunklen Blätter wehmütiger 6r-
innerungen, mit deren uns am Boden hal-
tenden Ketten wir ringen, die Stormfcben
Geiftes bei Brahms voll fcheinen. Zum
Deutfcben Requiem treten da die meiften
Jntermejji für Klavier, die vierte
(6-moll-) Symphonie, fowie die Mittel-
fät?e aller übrigen Symphonien. Die
vierte prägt das „Cengen" die dem
Holfteiner angeborene unftillbare Sebn-
fuebt nach der verlorenen H6"11*1*»
dem verlorenen Kindbeitsparadies, am
ergretfendften aus. Jn ihren ge-
dämpften färben, in der ruhigen
Bändigung dunkler und in den drei erften
Sätjen überall unter der Hfcbe glimmen-
der CeidenTcbaften lebt alle Melancholie
Theodor Storms; in dem nach norddeut-
fcher Hrt breit erzählenden und alter-
tümelnden Ton ihrer weit gefpannten
Themen jeigt Heb der bis auf Detlev von
Ciliencron und Guftav frenffen mächtige
niederdeutfehe Zug ?ur Ballade.

Hucb Claus GrÖtb, dem bolfteinifeben
Meifter plattdeutfcber Tolksdichtung,
ftand diefer Balladenton, und zuweilen,
wie in Hans Schander, in dämonifcher und
erfchreckender Größe ?u Gebote. Wie fein
älterer Torgänger und Schöpfer Dith-
marfcber Gedichte, Tohann Mever, Tpricht
er aber am Uebften aut bolfteinifcb ?u uns,
und hier ift es des Jdyllikers Grotb
fetner, tiefe Jnnerlicbheit unter fcbalk-
baftem Huqemwinkern verfteckender Hu-
mor, der in Brahms' Kunft feine Wieder-
auferftehuna feiert. Wlie Storms Refto-
nation bis in Brahms' höchftverfeiuert"
ßaufenkunft, bis in feine wie bei
Beethoven fprechenden Jnnenoaufen, feine
durch jene verfetuten feuf?erfchweren
Rbvtbmen hineintritt, fo Groths Tchal-
kifcher, leite auflachender Humor und
Groths bolfteinifebe Tolkstümlichkeit in
iede kleinere form Brahmfifcber Kunft.
Hm deutlichften in Groths Regenlied und
feinem Dachklang. dem letzten Satj der
G-dur Ttolinfortatc. Brahms' Ton der
Refignation klingt an Storm an; er bleibt
 
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