IKONOLOGISCHE UNTERSUCHUNG DES RETABELS
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versucht. Der Schrift ‘De Assumptione Beatae Mariae Virginis Liber unus’5S, die im Mittelal-
ter dem Hl. Augustinus (354-430) zugeschrieben wurde und heute in die Mitte des 12. Jahr-
hunderts datiert wird, kommt innerhalb der mariologischen Diskussionen eine besondere Stel-
lung zu. Der Autor dieser Schrift versucht in spekulativer Argumentation und unter Verzicht
der Transituslegenden, die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel theologisch-
dogmatisch zu begründen. In der für die folgenden Jahrhunderte sehr wirkmächtigen ‘Legenda
au re er zitiert 100 Jahre später Jakobus de Voragine (1228/29-1298) diesen Liber unus des
Ps. Augustinus, um der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel eine theologisch legiti-
mierte Grundlage zu geben.
„Augustinus schreibt solches gleichermaßen und bewährt es mit drei Gründen. Das erste ist die
Einheit von Christi Fleisch und der Jungfrau Leib. Davon spricht er ‘Fäulnis und Würmer sind
die Schmach menschlicher Natur; davon ist Christus frei blieben, und auch Marien Leib, den
Christus von ihr empfing’. Das zweite ist die Würdigkeit ihres Leibes. Davon spricht er ‘Der
Thron Gottes, die Wohnung des himmlischen Herrn, das Tabernakel Christi muß da sein, wo er
selber ist; dieser edle Schatz wird würdiger im Himmel gewahrt, denn auf Erden’. Das dritte ist
des jungfräulichen Leibes gänzliche Reinheit; davon spricht er ‘Freue dich, Maria, mit unaus-
sprechlicher Freude: du bist nun mit Leib und Seele in Christo, deinem eigenen Sohn, mit ihm
und durch ihn. Dein Tod ist ohne Verwesung, gleichwie die Geburt des Sohnes war ohne Unrei-
nigkeit .. .11555
Der Autor, der sich hinter der Autorität des Kirchenvaters Augustinus verbirgt, hebt in Sei-
ler Schrift mehrere Gründe hervor, von denen Jakobus de Voragine hier drei zentrale Argu-
mente zitiert, die sich alle aus der Apostrophierung Mariens als ‘Gottesgebärerin’ (Theotokos,
beigenitrix) auf dem Konzil von Ephesus im Jahre 431 ableiten lassen. Wenn Gott sich in
Christus und durch den Leib Mariens in diese Welt inkarniert hat, dann muß der Leib Mariens
mit dem Leib Christi wesensgleich sein. Dieses Verständnis der Leibeinheit von Maria und
Jesus kommt im Liber unus in dem Satz
„Caro enim Jesu caro est Mariae“ ’
zum Ausdruck, der das wichtigste Argument für die leibliche Aufnahme Mariens liefert.
Benn ist der Leib Mariens wesensgleich (in natura') mit dem Leib Christi, stellt sich angesichts
'hres menschlichen Todes zwingend die Frage nach dem Verbleib des Leibes Mariens. Da die
Bibel an dieser Stelle keine Antwort gibt, wird mit der Leibeinheit, der unitas carnis, die auch
lr> den beiden im ‘Liber unus’ sich anschließenden Gründen, der Würdigkeit ihres Leibes und
'hrer Jungfräulichkeit, zum Ausdruck kommt, eine leib-seelische Präsenz Mariens im Himmel
hergeleitet. Die Aufnahme Mariens in den Himmel unterscheidet sich von der Himmelfahrt
nur dadurch, daß Christus aus eigener Kraft und Maria durch die Kraft Gottes in den Himmel
gefahren ist. Folglich wird Maria in den Bildwerken auch als von Engeln getragen dargestellt.
SS?L 40, 1141-1148 - Zu Datierung elc. vgl. SÖLL 1978 [wie Anm. 459], S. 161-164.
5Ss Jakobus de Voragine, Legenda aurea, um 1263-1273, zitiert nach der ed. Ausgabe von BENZ 1984.
SS6bENZ 1984, S. 590f.
pL 40, 1145.
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versucht. Der Schrift ‘De Assumptione Beatae Mariae Virginis Liber unus’5S, die im Mittelal-
ter dem Hl. Augustinus (354-430) zugeschrieben wurde und heute in die Mitte des 12. Jahr-
hunderts datiert wird, kommt innerhalb der mariologischen Diskussionen eine besondere Stel-
lung zu. Der Autor dieser Schrift versucht in spekulativer Argumentation und unter Verzicht
der Transituslegenden, die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel theologisch-
dogmatisch zu begründen. In der für die folgenden Jahrhunderte sehr wirkmächtigen ‘Legenda
au re er zitiert 100 Jahre später Jakobus de Voragine (1228/29-1298) diesen Liber unus des
Ps. Augustinus, um der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel eine theologisch legiti-
mierte Grundlage zu geben.
„Augustinus schreibt solches gleichermaßen und bewährt es mit drei Gründen. Das erste ist die
Einheit von Christi Fleisch und der Jungfrau Leib. Davon spricht er ‘Fäulnis und Würmer sind
die Schmach menschlicher Natur; davon ist Christus frei blieben, und auch Marien Leib, den
Christus von ihr empfing’. Das zweite ist die Würdigkeit ihres Leibes. Davon spricht er ‘Der
Thron Gottes, die Wohnung des himmlischen Herrn, das Tabernakel Christi muß da sein, wo er
selber ist; dieser edle Schatz wird würdiger im Himmel gewahrt, denn auf Erden’. Das dritte ist
des jungfräulichen Leibes gänzliche Reinheit; davon spricht er ‘Freue dich, Maria, mit unaus-
sprechlicher Freude: du bist nun mit Leib und Seele in Christo, deinem eigenen Sohn, mit ihm
und durch ihn. Dein Tod ist ohne Verwesung, gleichwie die Geburt des Sohnes war ohne Unrei-
nigkeit .. .11555
Der Autor, der sich hinter der Autorität des Kirchenvaters Augustinus verbirgt, hebt in Sei-
ler Schrift mehrere Gründe hervor, von denen Jakobus de Voragine hier drei zentrale Argu-
mente zitiert, die sich alle aus der Apostrophierung Mariens als ‘Gottesgebärerin’ (Theotokos,
beigenitrix) auf dem Konzil von Ephesus im Jahre 431 ableiten lassen. Wenn Gott sich in
Christus und durch den Leib Mariens in diese Welt inkarniert hat, dann muß der Leib Mariens
mit dem Leib Christi wesensgleich sein. Dieses Verständnis der Leibeinheit von Maria und
Jesus kommt im Liber unus in dem Satz
„Caro enim Jesu caro est Mariae“ ’
zum Ausdruck, der das wichtigste Argument für die leibliche Aufnahme Mariens liefert.
Benn ist der Leib Mariens wesensgleich (in natura') mit dem Leib Christi, stellt sich angesichts
'hres menschlichen Todes zwingend die Frage nach dem Verbleib des Leibes Mariens. Da die
Bibel an dieser Stelle keine Antwort gibt, wird mit der Leibeinheit, der unitas carnis, die auch
lr> den beiden im ‘Liber unus’ sich anschließenden Gründen, der Würdigkeit ihres Leibes und
'hrer Jungfräulichkeit, zum Ausdruck kommt, eine leib-seelische Präsenz Mariens im Himmel
hergeleitet. Die Aufnahme Mariens in den Himmel unterscheidet sich von der Himmelfahrt
nur dadurch, daß Christus aus eigener Kraft und Maria durch die Kraft Gottes in den Himmel
gefahren ist. Folglich wird Maria in den Bildwerken auch als von Engeln getragen dargestellt.
SS?L 40, 1141-1148 - Zu Datierung elc. vgl. SÖLL 1978 [wie Anm. 459], S. 161-164.
5Ss Jakobus de Voragine, Legenda aurea, um 1263-1273, zitiert nach der ed. Ausgabe von BENZ 1984.
SS6bENZ 1984, S. 590f.
pL 40, 1145.