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IKONOLOGISCHE UNTERSUCHUNG DES RETABELS

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dacht erbeten und erhofft wird. So fordert ein unbekannter elsässischer Prediger aus dem 14.
Jahrhundert am Ende seiner Marienpredigt die Zuhörer auf:

„Nun bittet die edle Weinrebe Maria, daß uns der rote Wein, der aus ihres Sohnes Seite floss und
am heiligen Kreuze ausgepresst wurde, alle unsere Missetat abwasche und daß wir durch ihre
Hilfe verdienen, den Wein der ewigen Freuden im Himmelreich zu genießen.“720

Das Rankengeflecht im Creglinger Altar gehört demnach zur ikonographischen Gestaltung
des Retabels. Es durchdringt den gesamten Altaraufbau und ist liturgisch und dogmatisch mit
der Aufnahme Mariens in den Himmel und ihrer Verehrung als Weinstock, der die Traube
Christus trägt, verbunden.

Der Creglinger Marienaltar von Tilman Riemenschneider verkörpert einen Andachtsaltar

an' Ausgang des Mittelalters. Die ikonographische Analyse der Bildwerke macht deutlich, daß
Riemenschneider im Korpus das Bild einer Aufnahme Mariens entwirft, das sich formal auf
bekannte und besonders in der Buchmalerei verbreitete Bildfindungen bezieht und in der Bild-
tradition der stehenden Maria-Orans steht, die von Engeln gen Himmel gehoben wird und seit
um 1000 in der abendländischen Bildkunst einen gängigen Bildtypus darstellt. Das besondere
ar> dieser Bildfindung ist zum einen ihre künstlerisch und ikonographisch einmalige Umset-
Zung in einen Schnitzaltar und zum anderen die Hervorhebung der Aufnahme Mariens als eine
Vision der Apostel, die anhand der Kategorien räumlicher Gestaltung der Skulptur in einem
aus ‘widersprüchlichen Elementen’ zusammengesetzten Bildraum dargestellt wird. Riemen-
^hneider entwirft damit ein Andachtsbild der Aufnahme Mariens, welches den Kriterien des

neuen Bildbegriffs folgt. Das Rankengeflecht am Creglinger Retabel ist nicht nur Verzierung
Und zeitgemäße Gestaltung des Schnitzaltares, sondern es verweist auf Prädikationen Mariens
als Weinstock und bezieht sich explizit auf die Traubenweihe am Festtag der Aufnahme Mari-
etls, die im Mittelalter gefeiert wurde. Das Andachtsbild wird von sieben Bildwerken gerahmt,
c''e das mnemotechnische Programm einer Andacht zu den Sieben Freuden vorgibt. Die iko-
n°graphische Einfachheit der einzelnen Bildwerke einerseits und ihre Beziehungen unterein-
ander andererseits kennzeichnen den Creglinger Marienaltar als einen Andachtsaltar, der zur
Bedacht der ‘Sieben Freuden Mariens’ diente und dabei die Aufnahme Mariens in ihren Mit-

Rdpunkt stellt. Das Bild der Aufnahme Mariens ist Vorbild und Hoffnung für den Gläubigen

Zugleich. Vorbild, indem an Maria die Verheißung des christlichen Glaubens, die Aufnahme
Menschen an Leib und Seele in den Himmel, beispielhaft vorweggenommen ist. Das Bild

Dticht dem Gläubigen eingedenk der eigenen Vergänglichkeit Hoffnung, weil einerseits der
Mensch die Verwirklichung dieser Verheißung auch bei sich erhoffen darf, und weil anderer-
Seits Maria in ihrer leib-seelischen Präsenz im Himmel das Amt der Fürsprache am Throne
G
°ttes von Christus verliehen bekommt und der Mensch auf ihre Fürsprache hoffen kann. Die-

Redeutung des Retabels wird durch dessen Bildkonzept mit einer Gebets- und Andachts-

1,11 verbunden, die um 1500 verbreitet war. Eine Andacht oder ein Reimgedicht, welches

exPlizit in Beziehung zu dem Retabel steht, oder auch eine Gemeinschaft, die sich dieser Ge-

r'ginal und Übersetzung bei THOMAS 1970. S. 46f. 36.
 
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