Eine doppelte Wirkung rief die religiöse Bewußtwerdung
des Individuums dann hervor: Christus erschien mehr und mehr
als beispielhafter Mensch. Cusanus findet in ihm das Wesen
des Menschen gleichsam versinnbildlicht,1) und Marsilio Ficino
sieht ihn als exemplar virtutum neben den antiken Rednern
und Philosophen.2) Aber damit erinnerte man sich auch jener
tugendhaften Menschen der heidnischen Antike, die das
Christentum als Beispiele — fast zu allegorischen Verkör-
perungen einer Tugend erstarrt — bewahrt hatte. War die
Kraft zu Gott emporzusteigen in der menschlichen Seele an-
gelegt, so mochten sich auch Heiden das Heil erwirkt haben,
ohne das vermittelnde Dogma. Schon Dante versetzte ja den
Vergilischen Helden Ripheus in den Jupiterhimmel.3) Und so
treten die großen Menschen der Antike mehr und mehr als
Vorbilder neben die Heiligen. „Wenn nun aber Vernunft
fragt, warum ich von Exempeln überfließe (sagt Petrarca in
einem Brief an Colonna)... so sage ich,... mich ... rührt
nichts so sehr als die Beispiele großer Menschen.“ Neben der
Sehnsucht nach der entschwundenen besseren Vorzeit spricht
aus diesen Worten doch auch die stoische Verehrung der
exempla virtutum. Indem so die stoischen Tugenden den im
engeren Sinne christlichen zur Seite traten, das Gefühl der
Ohnmacht vor Gott mehr und mehr dem Vertrauen auf Wert
und Vermögen der menschlichen Seele wich, vermochte auch
ein weltlich politisches Leben in eine höhere Beziehung zu tre-
ten. Nicht nur das weltabgewandte Dasein fand seine Recht-
fertigung vor Gott. Schon Dante hatte die Regierungstaten
selbst heidnischer Kaiser mit dem göttlichen Heilsplan un-
mittelbar verknüpft4) und Justinians Rechtsordnung von seiner
Bekehrung durch Agapitus gleichsam bedingt sein lassen.5)
Eine Beziehung weltlicher Tugenden auf das Ewige ward umso
*) De visione Dei, cap. XX.
2) Epist. 1. I 632 a.
8) „Regnum caelorum violenza pate da caldo amore e da viva
speranza, ehe vince lo divina volontate.“ Paradiso XX. 94 f
4) Paradiso VI. 86—93.
5) Ibid. 22.
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des Individuums dann hervor: Christus erschien mehr und mehr
als beispielhafter Mensch. Cusanus findet in ihm das Wesen
des Menschen gleichsam versinnbildlicht,1) und Marsilio Ficino
sieht ihn als exemplar virtutum neben den antiken Rednern
und Philosophen.2) Aber damit erinnerte man sich auch jener
tugendhaften Menschen der heidnischen Antike, die das
Christentum als Beispiele — fast zu allegorischen Verkör-
perungen einer Tugend erstarrt — bewahrt hatte. War die
Kraft zu Gott emporzusteigen in der menschlichen Seele an-
gelegt, so mochten sich auch Heiden das Heil erwirkt haben,
ohne das vermittelnde Dogma. Schon Dante versetzte ja den
Vergilischen Helden Ripheus in den Jupiterhimmel.3) Und so
treten die großen Menschen der Antike mehr und mehr als
Vorbilder neben die Heiligen. „Wenn nun aber Vernunft
fragt, warum ich von Exempeln überfließe (sagt Petrarca in
einem Brief an Colonna)... so sage ich,... mich ... rührt
nichts so sehr als die Beispiele großer Menschen.“ Neben der
Sehnsucht nach der entschwundenen besseren Vorzeit spricht
aus diesen Worten doch auch die stoische Verehrung der
exempla virtutum. Indem so die stoischen Tugenden den im
engeren Sinne christlichen zur Seite traten, das Gefühl der
Ohnmacht vor Gott mehr und mehr dem Vertrauen auf Wert
und Vermögen der menschlichen Seele wich, vermochte auch
ein weltlich politisches Leben in eine höhere Beziehung zu tre-
ten. Nicht nur das weltabgewandte Dasein fand seine Recht-
fertigung vor Gott. Schon Dante hatte die Regierungstaten
selbst heidnischer Kaiser mit dem göttlichen Heilsplan un-
mittelbar verknüpft4) und Justinians Rechtsordnung von seiner
Bekehrung durch Agapitus gleichsam bedingt sein lassen.5)
Eine Beziehung weltlicher Tugenden auf das Ewige ward umso
*) De visione Dei, cap. XX.
2) Epist. 1. I 632 a.
8) „Regnum caelorum violenza pate da caldo amore e da viva
speranza, ehe vince lo divina volontate.“ Paradiso XX. 94 f
4) Paradiso VI. 86—93.
5) Ibid. 22.
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