Priesters zu bedürfen meinen. — Christi leibliches und irdi-
sches Erscheinen tritt immer stärker in den Mittelpunkt der
gläubigen Verehrung, und indem er sich so dem Menschen
nähert, fühlt dieser in sich selbst auch die eingeborene Kraft
ihm nachzufolgen. Denn auch in dem Gottessohn sieht man
den Menschen. Man darf vielleicht das Antikische in jener
Plastik des 13. Jahrhunderts — weniger als auf die Nach-
ahmung zufälliger Antikenfunde — auf eine verwandte gei-
stige Haltung zurückführen, in der Christliches und Stoisches
sich mit wundervoller Bewußtheit verbinden.1) Gewiß aber be-
deutet das seltsam „Asketische“ der Kunst im 14. Jahrhundert
nicht mehr Weltabgewandtheit, Nichtachtung des Irdischen im
eigentlich mittelalterlichen Sinne. Diese hatte sich in einer
eigentümlich unwirklichen Typisierung der Figuren geäußert.
Jetzt wird körperliches und seelisches Leiden zum vor-
dringendsten Ausdruck der Gestaltung, — in der Kunst sowohl
wie in der geistigen Dichtung und in der Mystik, vor allem
Susos. Es liegt darin eine ganz neue Wertung des Mensch-
lichen. Eckharts Wort „Das schnellste Roß zur Vollkommen-
heit ist Leiden“ war doch auch auf die Empfindungen der Sinne
bezogen; ebenso wie Mariä Schmerz soll der Anblick von Christi
Wunden die Seele aufrütteln, durch körperliches Mitleiden
ward auch in den Geist ein Pfeil gebohrt. Die geistig-sinnliche
Nachfolge Christi begreift die Gesamtpersönlichkeit ein — in
welcher Askese sich dies auch äußern mag. Irre ich nicht, so
tritt uns in dieser Zeit die erste große Verherrlichung und Be-
wertung der Affekte entgegen, wie sie dann erst wieder der
Barock ausbildete.
l) Wenigstens ein Beleg sei für diesen Gedanken angeführt: Gerade
jenes Zeitalter hat auch die Vorstellungen der heidnischen Ueberliefe-
rungen einbezogen, die universale Gültigkeit seines religiösen Weltbildes
aus der antiken Geschichte bestätigt. Gewiß hat man schon damals sich
die Gestalt der Jungfrau Maria in Erinnerung der vestalischen Jung-
frauen des alten Roms vergegenwärtigt, „deren Wunderwirkungen ja
auch zur Verherrlichung der Jungfräulichkeit dienen.“ Das allerdings
erst um 1400 erschienene „Defensorium inviolatae virginitatis beatae
Mariae virginis“ versucht nun in der Tat einen Beweis für die Jungfräu-
lichkeit Marias durch die Wundererzählungen von den Vestalinnen.
Vergl. Piper a. a. O. I. S. 155 f.
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sches Erscheinen tritt immer stärker in den Mittelpunkt der
gläubigen Verehrung, und indem er sich so dem Menschen
nähert, fühlt dieser in sich selbst auch die eingeborene Kraft
ihm nachzufolgen. Denn auch in dem Gottessohn sieht man
den Menschen. Man darf vielleicht das Antikische in jener
Plastik des 13. Jahrhunderts — weniger als auf die Nach-
ahmung zufälliger Antikenfunde — auf eine verwandte gei-
stige Haltung zurückführen, in der Christliches und Stoisches
sich mit wundervoller Bewußtheit verbinden.1) Gewiß aber be-
deutet das seltsam „Asketische“ der Kunst im 14. Jahrhundert
nicht mehr Weltabgewandtheit, Nichtachtung des Irdischen im
eigentlich mittelalterlichen Sinne. Diese hatte sich in einer
eigentümlich unwirklichen Typisierung der Figuren geäußert.
Jetzt wird körperliches und seelisches Leiden zum vor-
dringendsten Ausdruck der Gestaltung, — in der Kunst sowohl
wie in der geistigen Dichtung und in der Mystik, vor allem
Susos. Es liegt darin eine ganz neue Wertung des Mensch-
lichen. Eckharts Wort „Das schnellste Roß zur Vollkommen-
heit ist Leiden“ war doch auch auf die Empfindungen der Sinne
bezogen; ebenso wie Mariä Schmerz soll der Anblick von Christi
Wunden die Seele aufrütteln, durch körperliches Mitleiden
ward auch in den Geist ein Pfeil gebohrt. Die geistig-sinnliche
Nachfolge Christi begreift die Gesamtpersönlichkeit ein — in
welcher Askese sich dies auch äußern mag. Irre ich nicht, so
tritt uns in dieser Zeit die erste große Verherrlichung und Be-
wertung der Affekte entgegen, wie sie dann erst wieder der
Barock ausbildete.
l) Wenigstens ein Beleg sei für diesen Gedanken angeführt: Gerade
jenes Zeitalter hat auch die Vorstellungen der heidnischen Ueberliefe-
rungen einbezogen, die universale Gültigkeit seines religiösen Weltbildes
aus der antiken Geschichte bestätigt. Gewiß hat man schon damals sich
die Gestalt der Jungfrau Maria in Erinnerung der vestalischen Jung-
frauen des alten Roms vergegenwärtigt, „deren Wunderwirkungen ja
auch zur Verherrlichung der Jungfräulichkeit dienen.“ Das allerdings
erst um 1400 erschienene „Defensorium inviolatae virginitatis beatae
Mariae virginis“ versucht nun in der Tat einen Beweis für die Jungfräu-
lichkeit Marias durch die Wundererzählungen von den Vestalinnen.
Vergl. Piper a. a. O. I. S. 155 f.
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