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Springer, Anton; Osborn, Max [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0094
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72

Zweiter Abschnitt: 1819—1850.


78. Der Verwundete, von P. E. Destouches. Leipzig, Stadt. Museum.

französischen Revolution
war noch nicht gedichtet,
die Erinnerung an die
Schreckenszeit zu nahe,
als daß die Phantasie
sich an der Revolution
entzündet hätte. Von der
Napoleonischen Ruhmes-
periode war nur der
Enthusiasmus für die
Großtaten des Heeres
lebendig geblieben. Un-
befriedigt von der über-
lieferten Kultur, zeigte
sich das junge Geschlecht
aber auch unzufrieden mit
den unmittelbar herr-
schenden Zuständen, dem
Zurückdrängen des Libe-
ralismus, der hochmüti-

gen Betonung der Legitimität. Ein Ideal tauchte auf, Wohl geeignet, die widersprechenden
Grundsätze zu vermitteln, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu versöhnen. Der Traum
einer liberalen Monarchie, eines freisinnigen Katholizismus erfüllte Phantasie und Herz. Damit
war der Anstoß gegeben, sich in die Vergangenheit zu versenken. In den alten Zeiten waren
das monarchische Prinzip und die Freiheit unauflöslich verbunden, oder, um ein geflügeltes
Wort zu brauchen: die Freiheit ist so alt wie Europa. Das war das Thema, das zuerst
die Wissenschaft mit großem Eifer und glänzendem äußeren Erfolg nachzuweisen versuchte.
Die historische Schule feierte große Triumphe. Der Wissenschaft folgte die Poesie, die sich,
der konventionellen klassischen Vermummung der Gedanken und Empfindungen müde, leiden-
schaftlich in die neue Welt stürzte, hier die reichsten stofflichen Anregungen fand und nach der
Natur und dem Wesen dieser Welt auch die künstlerische Auffassung regelte. In anderer Weise
mußte sie lebendig gemacht werden als das Reich Agamemnons und Helenas, das wir nur
durch die Vermittlung der antiken Kunst zu schauen gewohnt sind. Die Gestalten des Mittel-
alters, der nationalen Geschichte besitzen eine eigentümliche Lokalsarbe. Sie entbehren der for-
malen plastischen Schönheit, doch sie fesseln durch die ungebundene Leidenschaft, die heiße
Empfindung und die erhöhte Lebenskraft. Auf die packende Wiedergabe des Lebens, auf die
scharfe Charakteristik richtete sich vor allem die Aufgabe des Dichters. Bestärkt in diesem
Streben, an die Stelle des Schönen das Wahre zu setzen, wurde aber der Dichter durch die
Stimmung der Zeit. Durch den Gleichheitsfanatismus der Revolution, durch den soldatischen
Despotismus Napoleons war die subjektive Freiheit, der Aufschwung der selbständigen Persön-
lichkeit unterdrückt worden. Sie brachen sich jetzt unaufhaltsam Bahn, überschäumten und über-
sprangen jede Schranke. Keine Regel, kein Maß galten, die Phantasie des Künstlers herrschte
souverän. Nicht auf die inhaltliche Bedeutung des Gegenstandes kam es an, nicht auf die
Anmut und unmittelbare Schönheit der Formen. Auch das Häßliche und Schreckliche, die
Mischung des Erhabenen mit dem Gemeinkomischeu erschienen wert dargestellt zu werden,
vorausgesetzt, daß sie wahr und charakteristisch, durch die Lebcnsfülle packend geschildert wurden.
 
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